Romane
Denis Osokin. Goldammern
Adebar ist Fotograf im Papierkombinat von Neja im Verwaltungsbezirk Kostroma. Als sein Direktor Miron ihn bittet, ihm behilflich zu sein, nach Art der Merja seine vergangene Nacht verstorbene Frau Tanja zu verbrennen, ist er einverstanden. Gemeinsam ziehen sie Tanja aus und wieder an und flechten ihr, wie bei den Merja üblich, bunte Bänder ins Honig-und-Brot-Haar. Mit der »tief toten« Tanja auf der Rückbank, und zwei Goldammern, die Adebar zuvor auf dem Markt gekauft hatte, fahren sie los ans Ufer der Oka. Dort war Miron mit Tanja einst als junger Mann im Honigmond glücklich - und auch das gehört zur Tradition: viel »Rauch machen« und vom Honigglück erzählen.
So wie die Goldammern sind auch die anderen Geschichten von Denis Osokin - voller Fantasie und Poesie flattern sie traumgleich über der Wirklichkeit und werden von geografischen und ethnischen Koordinaten nur scheinbar am Boden gehalten und in der Realität verankert.
Goldammern, das vom ciconia Verlag in einer geschmackvollen, limitierten Ausgabe mit hübschen schwarz-weißen Abbildungen herausgebracht wurde, war schon als „Stille Seelen“ auf Festivalleinwänden erfolgreich. Nun hoffentlich als Buch. Es sei allen Bibliophilen, Neugierigen, Fans der russischen Avantgarde und Lesern der Lyrik ans Herz gelegt, und ebenso allen, die wissen möchten, was das weite Russland außer Putin noch zu bieten hat.
Giulia Caminito. Ein Tag wird kommen
Wagenbach Verlag
Caminito fand den Romanstoff in der Geschichte ihrer eigenen Familie, insbesondere ihr Urgroßvater stand dafür Modell, aber auch die noch heute im Kloster von Serra de Conti verehrte Äbtissin Zeinab Alif alias Maria Giuseppina Benvenuti. Geschickt verquickt die Autorin ihre Fiktion mit der Geschichte Italiens – mit der anarchistischen Bewegung, dem Ersten Weltkrieg, Mussolini und der Spanischen Grippe, über die sie schreibt: »Drei Tage genügten und Addio, am ersten Tag kam das Fieber, am zweiten barst einem die Lunge, und am dritten bekam man keine Luft mehr.« Ja, das kommt uns bekannt vor.
Eine tolle Empfehlung für alle Gerneleser von Francesca Melandri.nc
Anne Carson. Rot. Zwei Romane in Versen
S. Fischer Verlag
Ja, richtig gelesen. Und nein, Herkules stiehlt diesmal keine Rinderherde von der Insel Erytheia. Ganz im Gegenteil. Herkules ist ziemlich beschäftigt, die Welt mit seinem Charme um den Finger zu wickeln und dabei seiner Abenteuerlust nachzugehen.
Die kanadische Altphilologin und Dichterin Anne Carson taucht alte Mythen in ein neues Licht: Sie ermächtigt sich mythischer Figuren und erzählt eine andere Geschichte in Versform. Das geschieht in einer sprachlichen Kunstfertigkeit (kongenial übersetzt von Anja Utler), der man selten begegnet. Andauernd muss man pausieren, die letzten Verse repetierend, damit man auch nur nichts verpasst, denn die Assoziationsräume sind grenzenlos. Grenzen kommen sowieso nicht vor, nicht im Text und auch nicht in der Form. Ein absoluter Lesegenuss für Abenteuerlustige. hd
Anne Weber. Annette, ein Heldinnen-Epos
Leicht lesbar, auf traditionelle Reimform und strenges Versmaß verzichtend, weder ausschweifend noch überladen, hinreißend frei im Umgang mit Tradition und Regeln unterläuft Anne Weber all diese, unsere Vorstellungen und Bilder, wenn wir das Wort (Heldinnen)Epos lesen.
Sie hätte sich nicht vorstellen können aus der Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir einen traditionellen Roman zu machen, zu wenig Distanz und am Ende zu wenig Freiheiten, was das Schreiben betrifft, sagt sie in einem Interview.
So lesen wir eine hinreißende Erzählung über eine mutige, unerschrockene Frau, die mit nicht einmal achtzehn Jahren in den französischen Widerstand schlittert, mit dem Fahrrad kleine Päckchen von hier nach da transportiert und dann mit diesen unauffälligen Fahrten und den ersten „klandestinen“ Treffen plötzlich mittendrin steckt in einem Leben und Tun, dass nicht immer das Recht auf seiner Seite weiß - aber die Gerechtigkeit.
Der aktive Kampf in der Résistance gegen fremde Besatzer wird nach dem Krieg geadelt, was aber, wenn man gegen das eigene Volk als Besatzungsmacht in Algerien erneut in den Widerstand geht? Annette hat ihre festen Überzeugungen und ihr Tatendrang scheint schier ungebremst. Der Staat antwortet mit Gefängnis, Annette mit Flucht.
„Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu großen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz zu füllen. Weshalb wir uns Sisyphos (Annette) am besten glücklich vorstellen."
Ein Buch, so klug wie herausfordernd, so frisch wie radikal - ein unvergessliches Leseabenteuer. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2020. sg
Richard Middleton. Das Geisterschiff
Steidl Verlag
Es sind dreizehn kurze Erzählungen, die mitunter daherkommen wie Sagen, Märchen oder alte Gruselgeschichten. Es sind Erzählungen von Menschen, denen etwas Seltsames widerfährt, die an den Rändern des Lebens unterwegs sind. Dort, wo sich eine vermeintliche Realität mit anderen Dingen vermengt. Doch trotz aller Abwegigkeit und dramatischem Geschehen, blitzt hie und da auch ein Funken Humor auf.
Beim Lesen hört man fast die Stimme der alten Frau am Feuer, die einem gerade diese Geschichte erzählt, so dass man mit einem leichten Schaudern im Rücken ins Bett gehen muss.
Richard Middletons Leben war weder von großem Glück noch von großem Erfolg gekrönt. Erst nach seinem Tod wurde er bekannt. Das tat seinem Drang zu schreiben keinen Abbruch. Zum Glück für die heutigen Leser.
€ 18,-
Fabio Andina. Tage mit Felice
Aus dem Italienischen von Karin Diemerling
Rotpunkt Verlag
Es passiert nicht viel in diesem Buch. In einem Bergdorf im Tessin, in dem nur wenig Leute leben, in dem ein Bauer noch die letzten Kühe hat, in dem allerdings auch eine Bar gibt, lebt der neunzig Jahre alte Kauz Felice. Diesen begleitet eine Woche lang der moderne junge Ich-Erzähler in diesem kleine Roman und passt sich dessen Lebensgewohnheiten an. Beinahe vor Sonnenaufgang, meist vor dem ersten Hahnenschrei steht der Alte auf, geht meist barfuß in den nahegelegenen Kiefernwald, um in einer sogenannten Gumpe ein kaltes Bad zu nehmen, auch bei Regen, auch bei Schnee. Danach hackt er Holz, sammelt Früchte, sucht Pilze, besorgt Käse. Im Zuge dieser Entschleunigung erlebt der junge Mann, was wirkliche Dunkelheit ist, erlebt bisher ungehörte Stille, nimmt mit allen Sinnen die Natureindrücke wahr und erfährt manch anderes Geheimnis von dem wortkargen alten Mann – und die Lesenden mit ihm. Dieses handlungsarme Buch über ein in die Natur eingebettetes Leben ohne Ablenkung ist übrigens niemals langweilig, im Gegenteil, es ist eine beglückende Lektüre! kp
240 Seiten
€ 24,-
Richard Ford. Irische Passagiere
Aus dem Englischen von Frank Heibert
Verlag Hanser Berlin
„Das war typisch Maine, diese Aura von Ereignissen, die man gerade eben nicht mehr sehen konnte. Heimlich, aber eigentlich nicht geheim.“
Richard Ford lebt in Maine, und in seinem jüngsten, jetzt vierten Erzählungsband schärft er (wieder einmal) den Blick für die psychischen und moralischen Muster hinter den scheinbar glatt sich abspulenden Lebensläufen seiner konventionellen Figuren. Die meisten Mittelstandsamerikaner mit irischen Wurzeln, sind sie alles andere als in sich gekehrte, vom Leben gebrochene Charaktere. Sie geben durchaus gern etwas von sich preis, sind pragmatisch agierende Passagiere im eigenen Leben, die sich mit den anfallenden Gegebenheiten arrangieren wollen.
„Seiner Meinung nach passierten die meisten Ereignisse so, wie sie sollten.“
Eigentlich kann ihnen nicht viel passieren, in der breiten Spanne ihrer Lebensmitte. Profitable Berufe und abbezahltes Eigentum geben Sicherheit, „das Leben versuchte gut zu verlaufen“. Und dann passiert ihnen doch etwas: Ehescheidungen, Affären, überraschende Todesfälle, angeknackste Eltern-Kind-Beziehungen. Wie sie in die Wirren ihrer bürgerlichen Biografie geraten und sich dort einrichten, daraus leiten die Figuren nur jene Erkenntnisse ab, die ihre Gewissheiten nicht allzu sehr in Frage stellen. Schmerzen und Verluste stehen einer Lebensroutine gegenüber, an der sie oft mit einer coolen Unbedingtheit festhalten. Hauptsache weitermachen.
„Etwas geschieht und scheint das ganze Leben zu verändern, und dann raspelt sich alles zum erträglichen Maß zusammen.“
Richard Fords Kunst besteht gerade darin, seine Figuren in ihrem Weiter-so nicht nur mit kritischer Klarheit zu beleuchten. Über die Risse und Unwuchten in ihrer gut und situiert scheinenden Existenz schreibt er mit einer Zärtlichkeit und einem Blick des Mitgefühls, derer sie so sehr bedürfen. Als Leserin und Leser erfährt man nur ein Bruchstück ihrer Biografie, deren Kipppunkte und daraus resultierenden emotionalen Konsequenzen der Autor sprachlich meisterlich erfasst. Literatur, sagt Richard Ford, kann einen dazu bringen, sich mehr für das eigene Leben zu interessieren. Und es tröstlicher zu betrachten, möchte man nach diesem Buch hinzufügen.
be
288 Seiten
€ 22,-
HELEN WOLFF. HINTERGRUND FÜR LIEBE
Anfang der Dreißigerjahre - in Deutschland sind Hitler und Hindenburg allgegenwärtig, als sich ein Paar aufmacht, den Sommer in Südfrankreich zu verbringen. Er, weltgewandt, selbstsicher, überlegen, Sie, seine 20 Jahre jüngere Geliebte, noch etwas unerfahren, verliebt und voller Vorfreude auf die gemeinsame Zeit. Doch schnell muss sie feststellen, dass ihrer beider Vorstellungen sehr voneinander abweichen, sie wird bevormundet, ihre Wünsche übergangen. Und so macht sie sich auf, ihren eigenen Weg zu finden und in einem kleinen, idyllischen Häuschen in Saint-Tropez ihre Träume zu verwirklichen...
Die Verfasserin dieses autobiographischen Romans, Helen Wolff, die als Verlegerin an der Seite ihres Ehemanns Kurt Wolff eine Legende wurde, hat ihre literarisches Werk zu Lebzeiten unter Verschluss gehalten. Ihre Großnichte Marion Detjen hat das mit dem Hinweis "At my death, burn or throw away unread" versehene Manuskript von "Hintergrund für Liebe" nun zur Veröffentlichung gebracht und mit einem umfangreichen, einordnenden Essay Versehen. Ein Glück für das Publikum, das nun in den Genuss dieser lebensfrohen, von Sinneseindrücken überbordenden Lektüre kommen, die ihre LeserInnen von Anfang an packt und in eine andere Zeit entführt. Ein wundervoller Roman, voller Intensität und Leichtigkeit! mk
216 Seiten
€ 20,-
NICOLAS MATHIEU. ROSE ROYAL
€ 18,-
Marko Martin. Dissidentisches Denken
Jami Attenberg. Nicht mein Ding
€ 22,00
JACKIE THOMAE. BRÜDER
Hanser Verlag
Mick und Gabriel kennen sich nicht und auf ersten Blick wirken sie grundverschieden. Aber sie sind Brüder, Halbbrüder. Ihr Vater, ein Austauschstudent aus Senegal, bleibt nicht. Er geht zurück, um sich erst vierzig Jahre später wieder zu melden.
Man liest begierig beider Geschichten, verfolgt ihren Weg bis zur Lebensmitte. Die Figuren gehen einem nah und werden zu Personen, die man näher kennenlernen möchte. Das ist nur eine der großen Stärken dieses Buches. Denn Thomae lässt auch Berlin wiederauferstehen, als es noch eine riesige Versuchsanordnung war, von vielen Glücksrittern bevölkert wurde und niemand etwas mit den Begriff Gentrifizierung anfangen konnte. Mick nämlich, ist einer dieser Glücksritter, zur richtigen Zeit (90er Jahre) am richtigen Ort (Berlin natürlich) lässt er sich durch sein Leben treiben, ohne Ziel aber mit viel Spaß dabei.
Gabriel dagegen arbeitet, sehr viel, irgendwann zu viel. Er macht eine beeindruckende Karriere in London und versucht sein Leben planvoll zu gestalten. Klar, dass das irgendwann schief geht, oder doch nicht?
Leichtfüßig und elegant geschrieben, dabei keine Klischees bedienend, ist hier eine Philanthropin am Werk, die ihr Handwerk versteht. Denn am Ende des Buches angelangt, zwickt es einem im Gemüt, da man Mick und Gabriel nun verlassen muss und man doch hofft, einen von ihnen an der nächsten Ecke zu treffen. hd
429 Seiten
€23,00
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