Romane
CLEMENS J. SETZ MONDE VOR DER LANDUNG
Suhrkamp Verlag
528 Seiten
€ 26,-
Das Abseitige ist Clemens J. Setz nie fremd gewesen. In seinen Prosawerken und Essays setzte er sich unter anderem mit parawissenschaftlichen Phänomenen oder Plansprachen auseinander. So erstaunt es zunächst, dass sein jüngster Roman in einem eher klassisch historischen Panorama angesiedelt ist. Schauplatz ist das Worms einige Jahre nach dem 1. Weltkrieg. Unter den redlichen Bürgern des Rheinstädtchens befindet sich auch Peter Bender. Der glaubt nicht an das knapp 400 Jahre geltende Kopernikanische Weltbild. Für Bender lebt die Menschheit im Inneren einer Kugel. Die Erdmasse wölbe sich also auf einer konkaven Oberfläche um einen Himmel aus Füllgas. Die Hohlerdentheorie findet eine überschaubare Anzahl an Anhängern, die Bender mühselig um sich scharrt. Seine Frau Charlotte verfolgt indes lieber pragmatischere Ansätze der Familienversorgung – und ist deutlich hellsichtiger als Bender. Denn: die Inflation rollt an und nationalistische Stimmen gewinnen an Gewicht. Bender redet die zunehmende Repression gegen seine jüdische Ehefrau klein. Bis die ersten jungen Männer in SA-Hemden durch Worms patrouillieren. Bender muss nun den Realitäten ins Auge blicken. Clemens Setz hat einen kenntnisreichen, gut recherchierten Roman geschrieben. Einer, der durch seine hintergründig ironische Haltung, seine sprachliche Originalität und nicht zuletzt durch seine historische Anschaulichkeit besticht. Tristan Wagner
LISA WEEDA. ALEKSANDRA
Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
Kanon Verlag
286 Seiten
€ 25,-
Gold ist das Geweih der Hirsche, dem Symbol der Familie Krasnov, Weiß sind ihr Fell und das Leinen; Blau die Blumen, Rot die Liebe. Baba Mari, Lisas Urgroßmutter, bestickt ihr weißes Leinentuch außerdem auch mit schwarzem Garn, denn schwarz steht für die fruchtbare Erde des Donbass, und für allen Verdruss. In einer Geheimsprache aus unterbrochenen oder jäh endenden Lebenslinien, Namen und Farben stickt Baba Mari die Geschichte ihrer Donkosaken-Familie heraus. Da ist ihr Vater, der 1904 in den russisch-japanischen Krieg zieht und als gebrochener Mann zurückkehrt. Da ist die Gemeinschaft der Donkosaken, die als Strafe für ihren Kampf auf der Seite des Zaren nach der Revolution »entkosakisiert« und deportiert wird. Da ist ihre Familie, die im Zuge der Bolschewisierung und »Entkulakisierung« durch Brigaden von Roten von Haus und Hof vertrieben und ihres Getreides beraubt wird, wobei die Ehrlosen sogar das Saatgut verschleppen – aber die Familie überlebt den Holodomor, wenn sie auch spindeldürre, fremde kleine Mädchen mit geschwollenen Beinen begraben muss.
Als Baba Maris Tochter Aleksandra elf Jahre nach der Hungersnot 1942 am Bahnhof von Luhansk steht und in den deutschen Viehwaggon steigen muss, der sie als »Ostarbeiter« in eine deutsche Fabrik befördern wird, schenkt Baba Mari ihr das Tuch, sie soll es weiter sticken und niemals aus der Hand geben. Aleksandra kehrt nie zurück in ihre Heimat – aus Angst, dort als Kollaborateurin verhaftet zu werden, und weil sie in der Fabrik den niederländischen und ebenfalls zur Zwangsarbeit verschleppten zukünftigen Vater ihrer Kinder trifft.
Nun, 2014, soll Aleksandras Enkelin Lisa im Auftrag ihrer Großmutter das Leinentuch zurück nach Luhansk bringen, wo die Volksrepublik ausgerufen wurde. Es soll ihrem Cousin Kolja helfen, denn er wird vermisst, das Beharren auf seiner Freiheit, die in seiner Kosakenfamilie immer an oberster Stelle stand, hat ihn in schreckliche Schwierigkeiten gebracht.
Es ist Lisas Urgroßvater Nikolaj, der sie zu Kolja führt, die drei begegnen sich außerhalb der Zeit, im Palast des verlorenen Donkosaken, und dort schließt sich am Ende auch der Kreis, als sich die Silhouetten der Hirsche »auf der dünnen Linie zwischen dem hellblauen Himmel und dem goldgelben Feld« verflüchtigen. In fantastischen Zeitsprüngen nimmt Lisa Weedra ihre Leser auf dem Rücken der Weißen Hirsche mit den goldenen Geweihen mit auf eine Reise durch die bewegte Lebensgeschichte ihrer Ahnen, deren bewaffneter Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit heute das Selbstbild vieler Ukrainer prägt. Norma Cassau
LUKAS BÄRFUSS
VATERS KISTE. EINE GESCHICHTE ÜBER DAS ERBEN
Rowohlt, 95 Seiten,
€18,-
DIE KRUME BROT
Rowohlt, 256 Seiten
€ 22,-
„Meine Herkunft bleibt ungewiss. Ich könnte darüber nicht glücklicher sein.“ stellt Lukas Bärfuss am Ende seines literarisch-essayistischen Textes VATERS KISTE fest, der sich mit dem Erben im ökonomischen und soziologisch-psychologischen Sinne auseinandersetzt.
Fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod seines Vaters, der schon zu Lebzeiten abwesend war, öffnet Bärfuss eine von ihm geerbte Bananenkiste, die Zeugnisse eines Lebens in Armut enthält. Auch ihm sind die Mahnungen und Schuldscheine aus eigener Erfahrung bekannt und zeigen, wohin sein Leben hätte führen können. Die eigene erfolgreiche Entwicklung sieht Bärfuss in seinem Mangel an Erbschaft begründet, der ihm die Freiheit gab, sich selbst zu erfinden und ihn weder geistig noch finanziell fesselte – obwohl, wie er bemerkt, auch sein Vater ein Geschichtenerzähler gewesen sein muss, der im kleinen Berner Oberland immer wieder Mitmenschen überreden konnte, ihm Geld zu leihen. Von dieser Position aus stellt Lukas Bärfuss das gesamte Konzept des Erbens infrage, das hauptsächlich reichen Gesellschaften vorbehalten ist, und erweitert den Begriff auf die Umwelt, die wir unseren Kindern hinterlassen, den Müll im wörtlichen wie übertragenen Sinn. Dabei schlägt er spannende Kapriolen, die zum Nachdenken anregen, ob man mit ihm übereinstimmen mag oder nicht.
In seinem neuen Roman DIE KRUME BROT lassen sich diese Gedanken wiederfinden.
Adelina, das vermeintlich unbegabte Kind italienischer Einwanderer in der Schweiz, findet sich in den 1970er Jahren als alleinerziehende Mutter wieder, die trotz harter Arbeit immer am Rande des Abgrunds balanciert. Damit steht sie in der Tradition ihrer Familie, deren Väter ihre Kinder aus unterschiedlichen Gründen stets als Enttäuschung oder Belastung empfanden. Wie Adelina versucht, sich und ihre Tochter aus diesem Teufelskreis zu lösen, beschreibt dieser Roman, der wie das Essay keine einfachen Lösungen bietet. Christina Mathioszek
FRIEDRICH CHRISTIAN DELIUS. „DARLING, IT'S DILIUS!“ ERINNERUNGEN MIT GROSSEM A
Rowohlt Berlin Verlag
320 Seiten
€ 24,-
Wie schreibt man über das eigenen Leben? Wie findet man eine dem Leben, jedem Leben gemäße Form? Für Friedrich Christian Delius, der in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden wäre, war eines ausgeschlossen: ein chronologisches Erzählen biografischer Stationen. Aber wie dann? Er kommt auf eine unglaublich originelle und bezwingend einfache und bezwingend verschmitzte Idee: Ich erzähle mein Leben frei, assoziativ, sprunghaft und lebendig ohne am Ende an ein solches zu stoßen. Welch ein Einfall! Denn jedem Anfang liegt ein Zauber inne. So komponiert und collagiert und ordnet oder betrachtet er sein Leben indem er zurücktritt, den Buchstaben A nimmt und so blitzlichternd, scharfsinnig und heiter verschmitzt aus seinem Leben erzählt.
Ein Leben voller A… nfänge. So fragmentarisch der erste Anschein, blicken wir Leser auf ein erfülltes, ereignisreiches Leben, das von einer bewundernswert klaren Haltung und politischer Aufklärungskraft, großer Liebenswürdigkeit, von Empathie, Sensibilität, von unerschöpflichem, leisem Humor und dem Willen zur Form zeugt. Schleichers Buchhandlung verdankt diesem Autor unvergesslich eindrückliche Abende im Dahlemer Autorenforum.
Wenn Du nur auch noch B und C und D usw. hinzufügen könntest, lieber Christian.
Silke Grundmann
Emine Sevgi Özdamar. Ein von Schatten begrenzter Raum
Suhrkamp Verlag
Dieser Roman wird mit fortschreitender Lektüre zu einem Zuhause. Das ist anarchistisch, denn die Hauptfigur zieht es rastlos durch ein krisengeschütteltes Europa. Ihre vier Wände wechseln stetig, aber ihre Träume und Begegnungen, auch die Sprache selbst werden zu Orten, an denen ein Leben möglich scheint. Jene besonderen Augenblicke fädelt Özdamar zu einer großen Erzählung auf und bedient sich dabei einer entrückt-poetischen oder unmittelbar-realistischen Sprache.
Eine türkische Schauspielerin spielt auf den großen Bühnen von Berlin und Paris, nachdem sie aus der Türkei geflohen ist. Die Engagements sichern ihr Monat für Monat die Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis. Regisseure wie Besson und Peymann, Dichter wie Heiner Müller und Thomas Brasch haben ihren Auftritt. Trotzdem erschöpft sich das Buch nicht in der Darstellung einer Theater- und Literaturszene. Özdamar kartografiert den Lebensfluss einer Künstlerinnenexistenz, ohne die staatliche Repression in ihrer Heimat auszusparen. Gegen die politische Gewalt stellt Özdamar die Kraft der Kunst. Einer Kunst, die ins Leben eingreift, zum Leben wird: Freundschaft, Liebe, Verletzung und Abschied – diese Vorgänge poetisiert Özdamar, aber banalisiert sie nicht, denn es geht ihr am Ende um die ganz aktuelle Frage des gesellschaftlichen Zusammenlebens im alten und neuen Europa. Tristan Wagner
763 Seiten
€ 28,-
Iwan Schmeljow. Der Mensch aus dem Restaurant
Aus dem Russischen von Georg Schwarz, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Wolfgang Schriek, Die Andere Bibliothek
Skorochodow, der Schnellfüßige, trägt seinen Namen zu Recht, schließlich bedient er unauffällig und flink seit über zwanzig Jahren als Kellner in einem feinen Restaurant feine Gäste. Allzu fein sind die dann allerdings doch nicht, denn sie drücken gerne ihre Zigaretten an den unpassendsten Stellen aus, beschmutzen die Séparées, erbrechen den Stör à la provençale auf dem Korridor, lassen sich junge Mädchen kommen und stecken sich übriggebliebenes Obst und Nachtisch in die Taschen, bis die Hose feuchte Flecken hat. Die Prasserei der Herrschaften steht im krassen Gegensatz zum Leben Skorochodows, den ein Schicksalsschlag nach dem anderen ereilt: Sein Sohn gerät unter den Einfluss der Sozialrevolutionäre und wird verhaftet und verbannt, seine Tochter strebt nach sozialem Aufstieg und ist bereit, dafür ihren »guten Ruf« zu opfern, der Untermieter erhängt sich in der Wohnung, die Polizei macht Scherereien – und das ist noch längst nicht alles. Bei alledem wirkt Skorochodow lange verhältnismäßig ruhig, er ist tief mit den Hierarchien des zaristischen Russlands und dem orthodoxen Glauben verbunden und vertraut darauf, dass Gott es richten wird – ganz anders als seine Kinder, die überzeugt sind, alles selbst richten zu müssen. Ein Generationenkonflikt, wie man ihn aus Turgenews Väter und Söhne kennt. Neben den großartigen, grotesken Restaurantszenen ist vor allem die Sprache bemerkenswert. Aus der Bandbreite von religiös-philosophisch bis grob-mündlich entsteht eine Mischung, die anfangs kurios anmutet, aus der sich aber in der Übertragung des DDR-Übersetzers Georg Schwarz von 1968 eine bemerkenswerte Dynamik mit ganz eigenem Charme entwickelt. Ebenfalls sehr empfehlenswert sind die umfangreichen Anmerkungen sowie das gründliche Nachwort über das bewegte Leben des Autors und die Entstehung des Romans, der schon 1911 in Russland erschien und, wie viele Werke, erst mit der Perestrojka wiederentdeckt wurde. Über all diese Jahre und politischen Wandel dürfte sich doch eines nicht verändert haben: »Das ganze Leben – ein einziges Restaurant«! Norma Cassau
310 Seiten
€ 44,-
Damon Galgut. Das Versprechen
Aus dem südafrikanischen Englisch von Thomas Mohr
Verlag Luchterhand
Schon zum dritten Mal stand der südafrikanische Schriftsteller Damon Galgut auf der Shortlist für den Booker Prize, als er ihn 2021 für „Das Versprechen“ erhielt.
Es erzählt den Verfall einer weißen südafrikanischen Farmerfamilie, beginnend im Apartheitsregime in den 1980er Jahren bis zum Ende der 2010er Jahre. Die Erzählung wird durch die Todesfälle in der Familie strukturiert, die den Hinterbliebenen Anlass geben zusammenzufinden. Zu Beginn des Romans nimmt die todkranke Mutter der fünfköpfigen Familie ihrem Ehemann das Versprechen ab, der schwarzen Haushaltshilfe Salome, die sich mehr um sie gekümmert hat als ihre Angehörigen, das kleine Häuschen, in dem sie lebt, zu übereignen. Die jüngste Tochter Amor wird Zeugin des Versprechens, das über Jahrzehnte nicht erfüllt und bei jedem Trauerfall erneut zum Thema wird. Der Roman wird in einem stream of consciousness erzählt, wechselt dabei aber immer wieder die Perspektive. Galgut bleibt eng bei den weißen Protagonistinnen, die sich überwiegend selbst als Opfer der politischen Veränderungen betrachten und kein Bewusstsein für ihre Täterschaft und ihre Mitverantwortung am rassistischen System entwickeln. Entsprechend bekommt auch Salome keine Stimme. "Das Versprechen" porträtiert den Zustand der weißen Gesellschaft Südafrikas bissig und wortgewandt. Der Übersetzer Thomas Mohr hat es auf beeindruckende Weise geschafft, die nahtlosen Übergänge der Bewusstseinsströme in die deutsche Sprache zu übersetzen und den Humor Galguts beizubehalten. Christine Mathioszek
366 Seiten
€ 24,-
Douglas Stuart. Shuggie Bain
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
Verlag Hanser Berlin
Es ist die Zeit der Massenarbeitslosigkeit der Bergleute im und um das niedergehende Glasgow der 1980er Jahre, die große Zeit von Margaret Thatcher. Shuggie Bain ist aus dem harten Stoff jener Gegensätze entstanden, aus dem schon Billy Elliott gemacht war, der Film über einen Jungen aus einer Arbeiterfamilie im nordenglischen Bergarbeitermilieu, der lieber zum Ballett als zum Boxen gehen möchte. Auch Shuggie Bain lebt von Gegensätzen. Wenn Agnes nach einigen Wodka und Bier aus der Teetasse in ihrem schönsten Queen’s English die unflätigsten Ausdrücke benutzt und im Nerzmantel das billigste Lagerbier einkaufen geht. Oder wenn sie in ihrem rosa Angora-Pullover mit den Glasperlen »glitzernd und flauschig am Boden liegt wie ein abgelegtes Partykleid«, weil ihr Mann sie verprügelt hat; wenn ihr kleiner Sohn Shuggie ihr in Krawatte und mit sorgfältig gescheiteltem Haar nach einer alkoholdurchtränkten Nacht den Eimer hinhält – und überhaupt gilt bei allem Elend immer: auf Agnes Kinder kommt kein Kohlenstaub, und wenn sie ihrer Mutter das Erbrochene vom Rock kratzen müssen.
Am Ende kann der kleine, zarte Shuggie in dieser verdrehten Welt seine schöne Mutter Agnes natürlich nicht retten, denn gegen den Alkohol kommt er nicht an. Aber wenn er sie auch verliert – seinen Stolz und seine Träume bewahrt er sich. Den Kopf immer schön erhoben halten, wenn der Hals auch dreckig ist - das hat ihm seine Mutter eingetrichtert.
Uns hat die Lektüre auch süchtig gemacht – nach mehr Shuggie Bain.
nc
494 Seiten
26€
Natascha Wodin. Nastjas Tränen
Rowohlt Verlag
Als die Schriftstellerin Natascha Wodin in ihrer Westberliner Altbauwohnung ukrainische Musik auflegt, laufen ihrer kürzlich eingestellten Putzhilfe Nastja Tränen übers Gesicht. Unversehens steht Wodin damit am Anfang einer Geschichte, einer „Ost-West-Geschichte“ wieder einmal. Eine Geschichte wie ihre eigene, die Wodin schon innerlich befriedet glaubte. Doch die fremden gleichzeitig so vertrauten Tränen lassen die Autorin nicht kalt. Und so beginnt sie von Nastja zu erzählen, ihrer Vergangenheit und ihrem An- und Durchkommen in Deutschland.Nastja hatte in Kiew ein Studium zur Bauingenieurin begonnen und Roman kennengelernt. Zusammen verbrachten sie unbeschwerte Tage auf der Krim und beschwerliche Jahre in poststalinistischer Enge. Nach 1989 wurde ihre ökonomische Situation untragbar. Nastja nimmt also den Zug nach Berlin, allein.Dort angekommen lebt sie den Alltag einer Arbeitsmigrantin, der hautnaher kaum erzählt sein könnte. Nastja macht alles durch: Etliche Putzjobs, eine ausbeuterische Zweckehe, die drohende Abschiebung. Natascha Wodin hilft Nastja schließlich, sie organisiert, sie setzt sich ein. Und findet für Nastjas Schicksal eine nüchterne, fast sachliche Sprache, doch durchsetzt mit Momenten lakonisch-lichter Poesie. Diese Balance sowie der Einblick in das komplexe Verhältnis beider Frauen zueinander, machen Nastjas Tränen zu einem anrührenden gleichzeitig aufklärenden Stück realistischer Literatur. Ein wichtiges, wertungsfreies, und doch engagiertes Buch! tw
192 Seiten
22€
Fridolin Schley. Die Verteidigung. Roman
Verlag Hanser Berlin
Im November 1947 wurde in Nürnberg der sogenannte „Wilhelmstraßen-Prozess" eröffnet - angeklagt waren hochrangige Diplomaten aus dem Auswärtigen Amt, u.a. Ernst von Weizsäcker, seit 1938 in der NSDAP und SS und einer der ranghöchsten Diplomaten unter Ribbentrop und Himmler. Die Verteidigung übernahm Hellmut Becker, der in der späteren Bundesrepublik Leiter des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung wurde - an seiner Seite, sein Assistent Richard von Weizsäcker, der Sohn. Eine solche Konstellation muss man sich vergegenwärtigen: Der Sohn verteidigt den wegen schwerster Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagten Vater. Darüber hat Fridolin Schley einen dokumentarischen Roman geschrieben, der sich aller emotionalen Sprache enthält, sein Wissen und seine Beschreibungskraft aus Dokumenten, Aufzeichnungen, Protokollen und der nicht wenig vorhandenen Literatur zu dem Thema bezieht. Das liest sich atemberaubend, trotz der Sachlichkeit - wird hier doch ein Raum aufgeschlossen, den man auf diese Weise anders niemals hätte betreten können. Da werden Argumente und Gegenargumente aufgetürmt und es wird einem ganz schwindlig - spätestens bei dem Begriff „Widerstand durch Mitmachen“. Ernst von Weizsäcker wurde am Ende zu sieben Jahren Haft verurteilt und 1950 entlassen.
„Der Wahrheit ins Auge sehen“ - so formulierte es Richard in seiner berühmten 8.-Mai-Rede 1985 -; was mit der Wahrheit bei diesem Prozess geschah, sollten Sie unbedingt lesen! Eine kleine Zeitmaschine, die Sie an einen Ort versetzt, an dem Sie nie gewesen und unser aller Verstehen für den Verlauf von Deutscher Geschichte schärft. Das kann nur große Literatur und Kunst. sg
272 Seiten
24€
Garry Disher. Barrier Highway
Unionsverlag
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Garry Dishers Reihe mit Constable Paul „Hirsch“ Hirschhausen spielt in Tiverton, einer fiktiven Kleinstadt in Südaustralien und zeichnet ein recht zermürbendes Bild des Lebens im Outback.
Auch im dritten Teil der Reihe verbringt Hirschhausen die längste Zeit seiner Tage im Auto, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, nach dem Rechten zu schauen und den Menschen in seinem Zuständigkeitsgebiet auch mal handwerklich behilflich zu sein.
Doch nach und nach eröffnen sich Risse in der vermeintlich ruhigen Gegend. Zunächst stiehlt jemand die Wäsche älterer Damen von der Leine, ein Fall von grober Kindesvernachlässigung wird aufgedeckt, ein Vater bedroht nicht nur den örtlichen Schuldirektor mit Waffen und einer der wenigen wohlhabenden Männer der Gegend erweist sich als skrupelloser Geschäftemacher.
So dramatisch die Umstände, so lakonisch präsentiert Disher dieses Bild einer zerrütteten Gesellschaft. Er setzt nicht auf Action und Hochspannung, sondern rollt den Teppich der Ereignisse langsam aus und die Landschaft Südaustraliens unterstreicht das Gefühl der Vereinzelung. Die Nachbarn mögen einen Kilometer entfernt leben, und dennoch kann man sich gehörig auf die Nerven gehen und an Gerüchten aufhängen. Die vielen vereinzelten Fälle dieses Bandes verdichten sich zu einem gesellschaftlichen Bild Südaustraliens, das erstaunlich leicht auf europäische Großstädte übertragbar ist.
Möge Garry Disher auch hier endlich die Leserschaft finden, die er schon lange verdient.
Als Gegenbild zu Constable Hirschhausen, der stets versucht, die Kontrolle zu bewahren und für rechtliche Ordnung zu sorgen, sei auch Dishers neue Reihe um Sergeant Auhl empfohlen, der sich um ungeklärte, archivierte Fälle kümmert und geneigt ist, das Recht großzügig zu interpretieren. (Garry Disher: Kaltes Licht. Unionsverlag, 313 Seiten,13.95 €, als Taschenbuch erhältlich) Christine Mathioszek
345 Seiten
22 Euro
Michael Krüger. Im Wald, im Holzhaus. Gedichte
Suhrkamp Verlag
„Was Gott so alles erlaubt, wenn der Tag lang ist...“
Gedichte des gut getarnten Mystikers Michael Krüger
„Es ist vielleicht nicht ganz falsch, Michael Krüger einen gut getarnten Mystiker zu nennen. Oder einen Schriftgelehrten am Ende aller Bücher, wo die Weisheit der Meister beginnt, jene närrische Weisheit, die ihr letztes Wort ins Wasser schreibt...“, so die Worte des hellhörigen Adolf Muschg im April 1986 (!) in seiner Laudatio auf den Peter Huchel-Preisträger Michael Krüger.
Neben vielem Gutgemeinten im übergangslosen Grenzgebiet von Literatur und Theologie ist die Stimme Krügers vom Vergnügen der Weltwahrnehmung geprägt, die für ihn unbeirrt „Schöpfung“ ist und deren Botschaften er in „närrischer Weisheit“ niederschreibt, deren schelmisch-klugen Züge und intellektuelle Schwerelosigkeit ihn zu einem einzigartigen Zeit-Genossen machen.
„Gott ist stark durch uns,/seine Lehre leicht, doch schwer zu leben,“ heißt es in „Hinter der Grenze“ (1989) – ein literarisch-theologischer Satz, lakonisch genau, die Bibel in zwölf Worten. Und 30 Jahren später, heute, schreibt er: „Hätte ich Zeit, würde ich jetzt die ganze Bibel noch einmal lesen, auf Knien.“ Der homme de lettres weiß, dass in der Bibel alle Romane schon einmal geschrieben sind...So meint es auch Muschg in seiner Preisrede, wenn er sagt, dass Krüger einem Horizont folge, den er „niemals einholen“ wird. Es ist eben wie in der Bibel: Es kommt immer zuviel dazwischen, „zwischen Bild und Bedeutung, Ich und Du, zwischen Lüge und Wahrheit, Leben und Tod. Von diesen Zwischen-Räumen handeln Krügers Gedichte.“ So auch die zwischen Leben und Tod jüngst erschienenen.
Gleich einem „Hieronymus im Gehäus“ auf dem Stich von Albrecht Dürer sitzt der Autor, geschieden von der Welt, im wörtlichsten Sinne „abgeschieden“, aber noch am Leben im Holzhaus im Wald, nahe dem Starnberger See, denn sein Immunsystem hat die „guten Tage hinter sich“. Eine Leukämie-Erkrankung zwingt, ja verurteilt ihn zu einer fugendichten Quarantäne: „Alles, was ich durch mein Fenster sehen kann...“ ist die erste Zeile des Bandes. Wer mitliest, muss in dieses Eremiten-Gehäuse, das ihm um des Lebenswillen zum Mittelpunkt der Welt wird. Anders als die klügste Kirchenvater der antiken Welt, Hieronymus (347 - 420), der mit seiner lateinischen Bibelübersetzung, der bis heute gültigen Vulgata, die das Christentum geprägt hat, der als einziger auch Hebräisch gelernt hatte, der (mit einer kleinen Frauenkommune!) im „Gehäus“ in Bethlehem sitzt und für eine gerechte Ordnung der Welt aufschreibt, was notwendig ist, anders als dieser sitzt Michael Krüger und denkt nach über die „vier Räder am Thronwagen Gottes: Unterscheidung, Einsicht, Gedächtnis und Freude.“ Anders und doch so nahe dem Hieronymus und dem Propheten Ezechiel, der das Bild vom vierrädrigen Wagen, dessen Räder in alle vier Himmelsrichtungen fuhren. Wie das geht? Ezechiel sah sie... Krüger notiert: „In dieser Zeit es gut, theologische Bücher
zu lesen.“
Im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschienen sie zuerst, Prosagedichte, Notate, Botschaften, lyrische Protokolle und die immer mitgehende Nachricht von der erzwungenen Vereinzelung, in der die Aufmerksamkeit für Bäume, Krokusse, Grünspechte, Grasmücken, Glockenblumen wuchs: „ Ich muss den Dingen eine Wahrheit geben, die sie von selbst nicht haben können, sonst geht alles ein. Ich auch...fünf Meter breit ist mein Fenster, vier Meter hoch, die Einstellung bleibt immer gleich, in Farbe.“ Ach, und „dazwischen schlucke ich meine bunten Pillen, deren Namen an aztekische Götter erinnern, Venclyxto oder Venetoclax...“ Er nimmt die Welt draußen wahr mit ihren alt-neuen Denkern, „unvorstellbare Spießer“, „keine Ketzer, Zweifler, Grübler, keine Abtrünnigen, Glatzköpfe in Lederhosen, die in meiner Heimat, Sachsen-Anhalt und Thüringen, Furcht und Zittern erzeugen wollen mit Plastikpistolen von Jahrmarkt...“ Dann doch eher Rabbi Akiba, der als Schriftgelehrter im 1. Jahrhundert über jedes Häkchen in der hebräischen Schrift Haufen und Haufen von Lehren vortrug! So kommt er durch die Tage, mit einem Talmudtraktat, Gedichten von Novalis, Listen von Plinius und immer als Maxime seines Aufschreibens gegen: Mittelmäßige Weitschweifigkeit...Die Losung vor Augen: „Jetzt bloß keine Angst kriegen und stehen bleiben.“ Am 9. Dezember wird er 78 Jahre alt. Großer Glückwunsch: Auf 120 Jahre und drei Monate! Drei Monate? Ja! Man will ja nicht so plötzlich sterben.
Dank an Michael Krüger im Wald, im Holzhaus. Nur nebenbei: Er soll schon wieder gesehen worden sein.
Helmut Ruppel
116 Seiten
24 Euro
Die Buchhandlung
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