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Romane

ALINA HERBING. TIERE, VOR DENEN MAN ANGST HABEN MUSS

Arche Verlag

Es ist kurz nach der Wende, als die Familie mit den vier Kindern von Lübeck auf einen heruntergekommenen Hof in Mecklenburg zieht. Der Vater hält es schon bald nicht mehr aus auf dem Hof, auch nicht mit seiner Frau, und später verlassen die zwei Söhne das Haus ebenfalls. Am Ende bleiben die Schwestern Madeleine und Ronja bei der Mutter zurück. Letztere träumt von einem antikapitalistischen Leben - Trabbi inklusive -, das sie ganz in den Dienst der Tiere stellt. Jeden Tag, jede Nacht rettet sie Tiere. Wilde Tiere wie Schwäne und Wildschweine, aber auch angekettete Hofhunde oder gequälte Mäuse. Das Geld ist knapp und knapper, viel geht für die Versorgung der Tiere drauf, die den Mädchen nicht nur Ressourcen rauben, sondern auch Platz. Bald trauen sich die Schwestern nicht mehr über den Flur, wo ein knurrender Hund eingesperrt ist, und zum Plumpsklo kommen sie am Ende nur durch, nachdem sie die vom Schweinefutter angelockten Ratten in die Flucht geschlagen haben. Alles verkommt, es regnet herein, es ist kalt und feucht, die auf dem Dachboden freigelassenen geretteten Mäuse nagen den dicken Balken durch. Die große Katastrophe – sie tritt im Buch nicht ein, ist aber immer greifbar, schwelt unter der Oberfläche. Stürzt die Scheune ein, stürzt sich der Hund auf Madeleine, vergisst die Mutter ihre Tochter bei Wind und Wetter wieder einmal vor dem Supermarkt, sodass diese trampen muss? Von ländlicher Idylle ist kaum etwas zu spüren. Neben all dem Drohenden stellt sich immer wieder die Frage nach dem Machtverhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen, zwischen der Mutter und ihren Töchtern. Wo endet die Verantwortungslosigkeit, wo beginnt die Vernachlässigung? Alina Herbing geht diese Fragen höchstens unterschwellig an, ihr Schreibstil ist subtil - aus der Perspektive der Töchter verhält sich die Mutter eben so, wie sie es immer tut, ihr Handeln wird nicht hinterfragt. Dem Leser aber drängen sich diese Fragen auf, bis über die letzte Seite hinaus. nc

256 Seiten
23 €

Maggie Millner. Paare. Eine Liebesgeschichte

Klett-Cotta Verlag

Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné

 

Dieser Text ist kurz aber gehaltvoll.

Die elegante Form des Langgedichts steht in einem interessantem Widerspruch zum mitunter profanen Inhalt des Textes. So begleiten wir die Protagonistin bei ihrer sexuellen Selbstfindung, ihrer teilweisen Weigerung erwachsen zu werden (als eine Art von Selbstverteidigung), ihrem Alltag im heutigen New York, ihren Gedanken als Dichterin und Dozentin zu Daseinszweck, Kunst und Lebensglück. Dabei bezieht sich der Text unter anderem auf Rachel Cusk, Virgina Woolf, Natalia Ginzburg und Jamaica Kincaid. Damit schafft Maggie Millner einen inspirienden Reflexionsraum, dessen Denkeinladungen und  -anregungen man nur zu gerne nachgeht. Die Sprache ist sehr klar und beschwört sofort eine Entsprechung im eigenen Kopf herauf. Die Übersetzung von Eva Bonné ist absolut gelungen und macht das Buch zu einem besonderem Leseerlebnis. hd

120 Seiten
20€

Die Wunderkammer des Lesens

Hg. Thomas Böhm
Verlag Das Kulturelle Gedächtnis

€28,-
320 Seiten

Die Wunderkammern aus dem Verlag Das Kulturelle Gedächtnis bilden inzwischen eine kleine Reihe. Neben der jetzt neu erschienenen Wunderkammer des Lesens gab es zuvor schon die Wunderkammer des Reisens durch Deutschland und die Wunderkammer der exzentrischen Küche. Die Wunderkammer ist prall gefüllt, und doch zunächst einmal etwas für Augenblicke, in denen Leser und Leserin gerade nicht in der Stimmung für epische Romanverwicklungen sind, aber die Finger trotzdem nicht vom Buch lassen können.

Das Buch lädt zum Herumblättern ein, und es ist höchst wahrscheinlich, dass das Auge des Lesers an einem Stichwort, einem Namen oder einer der originellen Grafiken hängenbleibt. Die Wunderkammer beherbergt eine prächtige Sammlung von Fakten und Fiktionen übers Lesen, und es stehen Kuriositäten neben Literarischem oder auch rein praktischen Informationen. Hier können Sie nachlesen, welche Titel in der Bibliothek der ISS stehen oder wie Sie einen Lesekreis gründen, warum Richard Powers seine Bücher nicht signiert oder welche Strategien es gibt, um Gedichte auswendig zu lernen. Auch Hans Fallada, Virginia Woolf oder Fontane kommen zu Wort. Möglicherweise erfreuen Sie sich auch an den zusammengetragenen Wortschönheiten aus dem Meyers Konversationslexikon und dem Grimm’schen Wörterbuch: die Büchergewandung, das Lesewesen, der Schriftling … Darüber hinaus ist das Buch toll gestaltet - so bunt und unkonventionell wie auch die anderen Titel aus der Wunderkammer-Reihe. Eine tolle Empfehlung für alle, die schöne Bücher und das Lesen lieben. nc

Klara Blum. Der Hirte und die Weberin

Die Andere Bibliothek, Band 463

48€
309 Seiten

Klara Blum – ein weiterer, klangvoller Name in der Liste der Vergessenen und Wiederentdeckten. Ihr Roman - ein wahrhaft ungewöhnlicher Text; wie könnte es auch anders sein, möchte man denken, entspringt er doch der Feder einer der Bukowina entstammenden Autorin. Die Bukowina, ein historischer Landstrich, buchenbewaldet und sprachengemischt, die einen gewissen Paul Ancel sowie Rose Ausländer, Selma Meerbaum und andere Stimmen hervorbrachte.
Titelgebend für den in der DDR zunächst verbotenen, dann still und leise veröffentlichten und später vergessenen Roman, ist die chinesische Volkssage einer verbotenen Liebe zwischen einem Hirten und einer Weberin, die durch einen Fluss getrennt werden. Das Geschehen katapultiert den europäischen Leser in die geheimnisvolle Welt Chinas, wo um 1937 herum die autobiographisch gefärbte Liebes- und Leidensgeschichte ihren Anfang nimmt. Nju-Lang, Sprössling einer Seidendynastie, ebenso unglücklich wie pflichtgemäß verheiratet und Vater geworden, ist ein leidenschaftlicher Theaterliebhaber, und seine improvisierten Inszenierungen westlicher, vermeintlich subversiver Stücke drängen ihn schließlich in die Flucht. In Moskau begegnet er der jüdischen Österreicherin (aus der Bukowina), Dichterin und Kommunistin Hanna Bilkes. Sie verlieben sich, und obwohl ihnen nur drei gemeinsame Monate beschieden sind, sind diese dennoch lebensprägend. Denn als Nju-Lang eines Tages ohne eine Nachricht verschwindet, hält Hanna bis zuletzt, viele Jahre lang, zu ihm, in der Überzeugung, dass ihr Geliebter auf eine geheime Mission geschickt worden wäre. Sie setzt alles daran, ihn wiederzutreffen, aber der Krieg, die Umstände erlauben ihr zunächst nicht, die Sowjetunion zu verlassen, sodass ihr erst Jahre später unter größten Entbehrungen über Prag und Paris die Reise nach China gelingt, wo sie hofft, ihren Geliebten zu finden.
Einiges spricht dafür, dass das Abenteuerliche dem außergewöhnlichen Leben der Klara Blum selbst abgeschrieben ist. Aber sie macht es Lesern nicht leicht, zu ihr vorzudringen, Anteil an ihrer Lebensfiktion zu nehmen: Im Stakkato, das an das Frühwerk Gabriele Tergits erinnert, preschen die Dialoge voran, Namen werden fallengelassen, unseren Ohren so fremd, dass sie dem Gedächtnis schon entfallen sind, noch bevor klar wird, ob man sie sich merken muss. Aber eben in jener Flüchtigkeit offenbart sich Blums tiefe Kenntnis der chinesischen Kultur und komplizierten politischen Ereignisse. Und die Schilderung der kolonialistisch-rassistischen Verhältnisse in Shanghai, der hierarchisch geprägten Beziehungen zwischen Chinesen und Weißen (Achtung: in der Sprache ihrer Zeit!) ist dermaßen scharfsichtig, dass der Autorin Vieles verziehen werden kann. Das Nachwort von Julia Franck ist, wie so oft bei Nachworten, unbedingt als hilfreiche Vorlektüre zu empfehlen. Und versteht man den Band als starken Einstand der neuen Herausgeber dieser wundervollen Reihe, Julia Franck und Rainer Wieland, dürfen wir hoffen, dass die Andere Bibliothek bleibt, was sie immer war: die besondere Reihe für den besonderen Leser. nc

PHILLIS WHEATLEY. NIE MEHR, AMERIKA! GEDICHTE UND BRIEFE

Aus dem Englischen von Florian Bissig
Friedenauer Presse

Mit sieben oder acht Jahren von Afrika nach Amerika verschleppt, wurde Phillis Wheatley 1761 als Sklavin an die Familie Wheatley verkauft.

Sie war die erste afroamerikanische Frau, der es gelang 1773 einen Gedichtband zu veröffentlichen. Dieser Band liegt nun endlich auch im Deutschen vor, ausgezeichnet übersetzt von Florian Bissig und versehen mit einer ausführlichen und sehr aufschlussreichen Einleitung.
Phillis Wheatley inspiriert bis heute viele afroamerikanische Schriftstellerinnen und Schriftsteller (u.a. Amanda Gorman). Mit ihren Gedichten bewies sie hohes formales und kreatives Können und allein die Veröffentlichung ihrer Texte zeugt von ihrem Mut, ihrer Kühnheit und Entschlossenheit. Für die Publikation war eine Widmung an die Gräfin von Huntingdon und die Versicherung von 18 (!) prominenten weißen Männern nötig, dass sie ihre Gedichte tatsächlich selbst verfasst hatte. Besonders bemerkenswert an ihrem Werk ist ihr „exaktes Gespür für das Sagbare“ (Bissig). Ihre Gedichte nehmen sich Freiheiten heraus, indem sie das herrschende rassistische Weltbild zum Teil bestätigen. Sie spielt mit diesen Erwartungen, und so bleiben ihre Gedichte immer gerade noch zumutbar für die damalige weiße Leserschaft. Sie verarbeitet religiöse und politische Themen der Zeit, es geht um spirituelle, wie auch um persönliche Freiheit. Die schön gestaltete Ausgabe lädt dazu ein, das Werk und die Geschichte von Phillis Wheatley zu entdecken und zu würdigen. Eine echte Lücke in der deutschsprachigen Bibliothek der Weltliteratur wurde somit geschlossen. Was von der Begründerin der Tradition der afroamerikanischen Lyrik erhalten geblieben ist, ist enorm wertvoll und lesenswert. jh

185 Seiten
22 €

MARVEL MORENO. IM DEZEMBER DER WIND

Aus dem kolumbianischen Spanisch von Rike Bolte
Wagenbach Verlag

Einmal in dieses Buch eingetaucht, ist es als betrachte man die Eruptionen eines aktiven Vulkans.
Die immer anwesende Hauptfigur Lina ist das glühende Erzählzentrum, von dem aus sich die heißen Ströme von Marvel Morenos Satzkaskaden verzweigen. Mal verlieren sie sich in der Familiengeschichte einer der vielen Figuren, mal schlagen sie Breschen durch psychoanalytisches oder biblisches Gedankengelände. Vorm lesenden Auge flimmert dann der Straßenstaub Barranquillas und im Dezemberwind weht die Hoffnungslosigkeit der jungen Generation vorüber. Zu dieser gehören Lina, Dora, Catalina und Beatriz – alle aus gut betuchtem Haus. Und alle vier kämpfen sie gegen eine sich auflösende traditionelle Ordnung. Die verschlungenen Lebenswege der Frauen werden gekreuzt von jähzornigen Männern, deren Allmachtsfantasien ihnen am Ende meist zum Verhängnis werden. Ihre Einzel- und Familienschicksale sind eng verknüpft mit den politischen Ideologien und Zeitläuften Europas und Lateinamerikas der Nachkriegszeit. Moreno spart dabei nicht mit Drastik und Sarkasmus, zeigt aber so die Unentrinnbarkeit der modernen Geschlechter- und Klassenverhältnisse am Beispiel ihrer Heimat auf. „Im Dezember der Wind“ – diese wunderbare Wiederentdeckung des Wagenbach Verlags – ist ein dunkel funkelndes Zeitbild Kolumbiens der Sechzigerjahre, welches sein Licht auch in die Gegenwart wirft. tw

432 Seiten
32 €

ANNE BEREST. DIE POSTKARTE

Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner
Berlin Verlag

Die Postkarte mit den vier Namen, die eines Tages im Briefkasten von Anne Berests Mutter liegt, ist der Anfang einer langen Reise durch die Zeit. Sie beginnt im postrevolutionären Moskau, als Nachman Rabinovitch 1919 seinen Sohn Ephraim sowie dessen Brüder auffordert, das Land zu verlassen – der »Fäulnisgeruch in seiner Nase« lässt ihn Schlimmes ahnen - und endet rund hundert Jahre später auf einem französischen Schulhof, wo ein kleines Mädchen, die Tochter der Autorin, sich von einem Jungen anhören muss, sie könne leider nicht mehr in die Fußballmannschaft gewählt werden, „weil man in meiner Familie Juden nicht mag.“
Ephraim über Riga und Haifa schließlich nach Paris, wo ein gewisser Louis Ferdinand Céline 1937 eine unerträgliche antijüdische Hetzschrift veröffentlicht, und wo jeder Bemühung der Familie Rabinovitch, die französische Staatsbürgerschaft zu erlangen, ein bürokratischer Riegel vorgeschoben wird. Den Kriegsbeginn erleben Ephraim und seine Familie in der Normandie, dort fühlen sie sich sicher. Unvorstellbar für sie, dass der Staat an ihrer Vernichtung arbeitet. Sie werden verhaftet und einzig Tochter Myriam, die Großmutter der Autorin, entkommt, im Kofferraum eines Wagens, in dem schon Hans Arp liegt. Ihre Fluchthelfer sind Vicente Picabia und seine Schwester, die dem Widerstand angehört, wie fortan auch Myriam. Sie wird die einzige Überlebende der Familie sein.
In Frankreich war „Die Postkarte“ ein großer Erfolg, die Mischung aus Romanbiographie und historischer Reportage trug dazu bei. Hierzulande dürften viele Details über die Kollaboration und deren Aufarbeitung un- oder nur wenig bekannt sein und die detektivisch recherchierte Familiengeschichte einige Fragen aufwerfen – unbequeme Fragen. nc

544 Seiten
28 €

Daniela Dröscher. Lügen über meine Mutter

Verlag Kiepenheuer & Witsch

Es ist die Zeit von Rondo Veneziano, Dallas, Wackersdorf und Trennkost-Diät – das Meiste gehört der Vergangenheit an. Dass eine Frau möglichst wenig Raum einnehmen soll mit ihrem Körper, ist bis heute so geblieben. Verblüffend, mit welcher Schamlosigkeit und Gemeinheit, aus welcher Machtlosigkeit und aus welchem Kontrollbedürfnis heraus der Mann seiner Frau wieder und wieder vorhält, zu dick zu sein. Wo alle anderen mit ihrer Partnerin kommen, zur Weihnachtsfeier, zum Strandurlaub, muss er sie zu Hause lassen. Maßlosigkeit und Nimmersattsein rühren an seine Männerangst, ist er doch in Wirklichkeit selbst hilflos verfangen in seiner Rolle als Mann und Vater. Als seine Frau erbt, gibt er eine Weile Ruhe, er ist zu beschäftigt damit, den Hausbau zu planen und mit seinem neuen Cabrio herumzufahren. Derweil lernt die Frau Französisch, um mehr zu verdienen, nimmt das Nachbarsmädchen Jessy bei sich auf, um es vor dem Heim zu bewahren, pflegt die alzheimerverwirrte Oma Ella, die erst immer spazieren gehen will und später bettlägerig ist. Neben Oma Ella und Jessy hat sie noch ihre eigenen beiden Töchter im Schlepptau. Aus der Perspektive der älteren Achtjährigen erleben wir Mutters Hungerkuren, kindliche Trennungsängste und Hin- und Hergerissensein zwischen den Eltern. Aus der Perspektive der erwachsenen Tochter in kurzen Zwischenkapiteln und im Zwiegespräch mit der Mutter dann die Rückschau, auch auf das Patriarchat: »Was machst du eigentlich den ganzen Tag?, wollte mein Vater wissen, als meine Mutter sich wieder einmal weigerte, nach Feierabend auf das Fahrradergometer zu steigen.«

Familie ist eben ein sprudelnder Quell für Inspiration, das wusste schon Tolstoi: »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.« Wie sich Daniela Dröscher mit ihrer Herkunft und Familie literarisch befasst, ist gelungen und mutig. Und packender könnten die 1980er in einer Kleinstadt im Hunsrück kaum erzählt sein. Norma Cassau

448 Seiten
€ 24,-

EEVA - LIISA MANNER. DAS MÄDCHEN AUF DER HIMMELSBRÜCKE

Aus dem Finnischen von Maximilian Murmann. Mit einem Nachwort von Antje Rávik Strubel
Guggolz Verlag


Der schmale Roman der hierzulande noch weitgehend unbekannten finnischen Autorin Eeva-Liisa Manner versetzt den Leser in solch einen erfüllten Schwebezustand, wie es die junge Hauptfigur Leena im Buch mit sich selbst tut. Denn: Leena ist eine Träumerin, eine, die ihre Umwelt mit einem magischen Kindesblick beseelt. Sie konstruiert sich beispielsweise eine Himmelsbrücke, wenn in ihrer Fantasie das spiegelnde Wasser zum Himmel wird und umgekehrt – sie dazwischen stehend, weder zur einen noch zur anderen Seite gehörend.
In der Schule findet die Neunjährige mehr schlecht als recht Anschluss sowohl was den Lernstoff als auch das soziale Umfeld angeht. Die starren Regeln und Ansprüche der Autoritäten überfordern sie. Lieber streift Leena durch ihr Dorf und entdeckt in einer katholischen Kirche die Musik Johann Sebastian Bachs. Genauso wie den offenbar betrunkenen Filemon, der nach seinem Orgelspiel mit ihr philosophische Fragen zu diskutieren pflegt: Ist das Leben vorbestimmt wie eine Partitur oder sind wir alle in eine wilde Zufallswelt geworfen? Bei aller Metaphysik entgeht den aufmerksamen Lesern jedoch nicht die feine Ironie Eeva-Liisa Manners – gerade in dieser Szene. Daneben ist es vor allem die ungewöhnliche Sprachkraft, die, zwischen erwähnter Ironie, Dada, Naturbeschreibung und kindlichen Realismus changierend, die Sogwirkung dieses Buches ausmacht. Dazu kommt es ohne eine wirkliche Handlung gut aus, weil es die Fantasie als eine menschliche Grundfeste treff- und wortsicher beschwört. Tristan Wagner

180 Seiten
€ 22,-

RICHARD HARDING DAVIS: GALLEGHER DER LAUFBURSCHE UND ANDERE STORIES

Aus dem amerikanischen Englisch von Hans-Christian Oeser.
Mit einem Nachwort von Bernd Erhard Fischer

Edition A. B. Fischer

 

Einen schönen Fund hat die Editon A. B. Fischer mit den Erzählungen des amerikanischen Journalisten Richard Harding Davis gemacht, die hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegen. Deutlich beeinflusst von den Romanen Charles Dickens' erschaffen die Erzählungen ein Sozialpanorama New Yorks am Ende des 19. Jahrhunderts, in dem arme Gauner wie reiche Erben ein großes Herz beweisen und nach gelegentlichen Verirrungen stets auf den Weg der Moral zurückfinden. So überholt das romantische Konzept klingen mag, lesen sich die Geschichten doch vergnüglich und schaffen ein lebendiges Bild der Stadt, das wiederum sehr gegenwärtig erscheint. Resignierte Reporter, die meinen, schon alles gesehen zu haben, feierwillige Nachtgestalten, die durch Straßen und Kneipen ziehen, oder junge Liebende, die bei der Verlobung Torschlusspanik ergreift, sind hier nur drei der Situationen, die über hundert Jahre nach der Erstveröffentlichung keineswegs antiquiert erscheinen.

Und obwohl jede Erzählung in sich abgeschlossen ist, gibt es Charaktere, die mal als Hauptfiguren und mal in einem Nebensatz oder als Nebenfigur in einer anderen Geschichte wieder auftauchen, wodurch ein organisches Bild der großen Stadt und unerwartete Zusammenhänge entstehen.

Im Nachwort stellt Bernd Erhard Fischer den hier unbekannten Autoren vor, der als Journalist, Kriegsreporter, Freund Roosevelts aber auch als Stilikone – stets glattrasiert und in feinem Zwirn - selbst ein abenteuerliches Leben geführt hat, und der als einer der bekanntesten Reporter seiner Zeit gilt. Eine späte, aber interessante Entdeckung. Christine Mathioszek

 

183 Seiten
€ 22,-

GIULIA CAMINITO. DAS WASSER DES SEES IST NIEMALS SÜSS

Aus dem Italienischen von Barbara Keiner
Wagenbach Verlag


Schon Caminitos erster ins Deutsche übersetzte Roman »Ein Tag wird kommen« war ein echtes Leseerlebnis. »Das Wasser des Sees ist niemals süß« steht dem in nichts nach. Es ist nicht das Dolce-vita-Italien, sondern das herbe Italien der Sozialwohnungen, der Spritzen im Hof, der unversicherten Schwarzarbeiterunfälle, der zerfallenden Schulen, der stickigen, überfüllten Pendlerzüge, der mühsamen Stufen zwischen alten Gemäuern, das Italien der jungen Menschen ohne Perspektive. Es ist das Leben der jungen Protagonistin Gaia, der die Mutter eintrichtert, dass nur Bildung aus der Misere heraushelfe. Und so liest sich Gaia durch die Weltliteratur und schafft es zuletzt sogar bis zur Philosophie-Doktorandin, um dann doch als Putzfrau zu enden. So hart die Mutter, so verhärtet die Tochter – und dabei doch immer auf der Suche nach Freundschaft, vielleicht sogar Liebe, die stets in sich fremd anfühlenden, aneinanderreiben Körpern und Verrat endet. Die aufgestaute Wut und Machtlosigkeit gegen das System entlädt sich in hemmungslosen Gewaltausbrüchen Gaias, die weder vor Faustschlägen noch vor Benzinkanistern zurückschreckt. Die Hiebe treiben dann auch Caminitos Sprache temporeich voran, und die gelungene Übersetzung reißt ihre Leser mit. Selten erhellen Sonnenstrahlen den dunklen Grund des Sees, nur manchmal blinkt etwas auf, vielleicht eine versunkene Weihnachtskrippe. Auch in Gaias Leben blinkt manchmal etwas auf, das anmutet wie Zugehörigkeit und Freude - bis sich die nächste Wolke wieder davorschiebt.
Ein kraftvoller Roman über das Erwachsenwerden in prekären Verhältnissen. Wer die italienische Literatur mit Elena Ferrante und Francesca Melandri für sich entdeckt hat, darf und sollte unbedingt hier weiterlesen. Norma Cassau

315 Seiten
€ 26,-

Lea Ypi. Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

Aus dem Englischen von Eva Bonné
Suhrkamp Verlag

Lea Ypi wurde 1979 in Tirana geboren, wuchs als Kind in dem festen Glauben auf, in einem der freiesten Länder der Erde zur Schule gehen zu dürfen, studierte später nach dem Zerfall des osteuropäischen Kommunismus Philosophie in Florenz und Rom und lehrt heute Politische Theorie an der London School of Economics.
In diesem Buch erzählt sie vom „Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“, vom Leben in einem der abgeschottetsten Länder des Ostblocks, von ihrer ungewöhnlichen Familie, in der eine Kindheit in Geborgenheit, Wärme, Klugheit und Abwesenheit von Drill sie zu der hat werden lassen, die sie heute ist. Dieses Buch ist eine lebendige Familienerzählung in Engführung mit der Geschichte Albaniens im 20. Jahrhundert, in dem Fragen nach Freiheit unter verschiedenen politischen Verhältnissen im Zentrum stehen, diese aber nie theoretisch bleiben. Sie begleiten die Menschen in ihrem täglichen Dasein und verlangen ihnen immer wieder die richtigen Entscheidungen ab. Ein überaus kluges, warmherziges Buch, lebendig erzählt, mitreißend humorvoll, stark aber nie verklärend. Wer mehr wissen möchte über das Leben in Albanien vor 1989 und nach dem großen Umbruch, der alles verändert hat, lese dieses Buch. Wen immer wieder die großen Fragen Freiheit wovon und Freiheit wozu umtreiben ebenfalls.
Silke Grundmann-Schleicher

332 Seiten
€ 28,-

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