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Romane

Daniela Dröscher. Lügen über meine Mutter

Verlag Kiepenheuer & Witsch

Es ist die Zeit von Rondo Veneziano, Dallas, Wackersdorf und Trennkost-Diät – das Meiste gehört der Vergangenheit an. Dass eine Frau möglichst wenig Raum einnehmen soll mit ihrem Körper, ist bis heute so geblieben. Verblüffend, mit welcher Schamlosigkeit und Gemeinheit, aus welcher Machtlosigkeit und aus welchem Kontrollbedürfnis heraus der Mann seiner Frau wieder und wieder vorhält, zu dick zu sein. Wo alle anderen mit ihrer Partnerin kommen, zur Weihnachtsfeier, zum Strandurlaub, muss er sie zu Hause lassen. Maßlosigkeit und Nimmersattsein rühren an seine Männerangst, ist er doch in Wirklichkeit selbst hilflos verfangen in seiner Rolle als Mann und Vater. Als seine Frau erbt, gibt er eine Weile Ruhe, er ist zu beschäftigt damit, den Hausbau zu planen und mit seinem neuen Cabrio herumzufahren. Derweil lernt die Frau Französisch, um mehr zu verdienen, nimmt das Nachbarsmädchen Jessy bei sich auf, um es vor dem Heim zu bewahren, pflegt die alzheimerverwirrte Oma Ella, die erst immer spazieren gehen will und später bettlägerig ist. Neben Oma Ella und Jessy hat sie noch ihre eigenen beiden Töchter im Schlepptau. Aus der Perspektive der älteren Achtjährigen erleben wir Mutters Hungerkuren, kindliche Trennungsängste und Hin- und Hergerissensein zwischen den Eltern. Aus der Perspektive der erwachsenen Tochter in kurzen Zwischenkapiteln und im Zwiegespräch mit der Mutter dann die Rückschau, auch auf das Patriarchat: »Was machst du eigentlich den ganzen Tag?, wollte mein Vater wissen, als meine Mutter sich wieder einmal weigerte, nach Feierabend auf das Fahrradergometer zu steigen.«

Familie ist eben ein sprudelnder Quell für Inspiration, das wusste schon Tolstoi: »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.« Wie sich Daniela Dröscher mit ihrer Herkunft und Familie literarisch befasst, ist gelungen und mutig. Und packender könnten die 1980er in einer Kleinstadt im Hunsrück kaum erzählt sein. Norma Cassau

448 Seiten
€ 24,-

EEVA - LIISA MANNER. DAS MÄDCHEN AUF DER HIMMELSBRÜCKE

Aus dem Finnischen von Maximilian Murmann. Mit einem Nachwort von Antje Rávik Strubel
Guggolz Verlag


Der schmale Roman der hierzulande noch weitgehend unbekannten finnischen Autorin Eeva-Liisa Manner versetzt den Leser in solch einen erfüllten Schwebezustand, wie es die junge Hauptfigur Leena im Buch mit sich selbst tut. Denn: Leena ist eine Träumerin, eine, die ihre Umwelt mit einem magischen Kindesblick beseelt. Sie konstruiert sich beispielsweise eine Himmelsbrücke, wenn in ihrer Fantasie das spiegelnde Wasser zum Himmel wird und umgekehrt – sie dazwischen stehend, weder zur einen noch zur anderen Seite gehörend.
In der Schule findet die Neunjährige mehr schlecht als recht Anschluss sowohl was den Lernstoff als auch das soziale Umfeld angeht. Die starren Regeln und Ansprüche der Autoritäten überfordern sie. Lieber streift Leena durch ihr Dorf und entdeckt in einer katholischen Kirche die Musik Johann Sebastian Bachs. Genauso wie den offenbar betrunkenen Filemon, der nach seinem Orgelspiel mit ihr philosophische Fragen zu diskutieren pflegt: Ist das Leben vorbestimmt wie eine Partitur oder sind wir alle in eine wilde Zufallswelt geworfen? Bei aller Metaphysik entgeht den aufmerksamen Lesern jedoch nicht die feine Ironie Eeva-Liisa Manners – gerade in dieser Szene. Daneben ist es vor allem die ungewöhnliche Sprachkraft, die, zwischen erwähnter Ironie, Dada, Naturbeschreibung und kindlichen Realismus changierend, die Sogwirkung dieses Buches ausmacht. Dazu kommt es ohne eine wirkliche Handlung gut aus, weil es die Fantasie als eine menschliche Grundfeste treff- und wortsicher beschwört. Tristan Wagner

180 Seiten
€ 22,-

RICHARD HARDING DAVIS: GALLEGHER DER LAUFBURSCHE UND ANDERE STORIES

Aus dem amerikanischen Englisch von Hans-Christian Oeser.
Mit einem Nachwort von Bernd Erhard Fischer

Edition A. B. Fischer

 

Einen schönen Fund hat die Editon A. B. Fischer mit den Erzählungen des amerikanischen Journalisten Richard Harding Davis gemacht, die hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegen. Deutlich beeinflusst von den Romanen Charles Dickens' erschaffen die Erzählungen ein Sozialpanorama New Yorks am Ende des 19. Jahrhunderts, in dem arme Gauner wie reiche Erben ein großes Herz beweisen und nach gelegentlichen Verirrungen stets auf den Weg der Moral zurückfinden. So überholt das romantische Konzept klingen mag, lesen sich die Geschichten doch vergnüglich und schaffen ein lebendiges Bild der Stadt, das wiederum sehr gegenwärtig erscheint. Resignierte Reporter, die meinen, schon alles gesehen zu haben, feierwillige Nachtgestalten, die durch Straßen und Kneipen ziehen, oder junge Liebende, die bei der Verlobung Torschlusspanik ergreift, sind hier nur drei der Situationen, die über hundert Jahre nach der Erstveröffentlichung keineswegs antiquiert erscheinen.

Und obwohl jede Erzählung in sich abgeschlossen ist, gibt es Charaktere, die mal als Hauptfiguren und mal in einem Nebensatz oder als Nebenfigur in einer anderen Geschichte wieder auftauchen, wodurch ein organisches Bild der großen Stadt und unerwartete Zusammenhänge entstehen.

Im Nachwort stellt Bernd Erhard Fischer den hier unbekannten Autoren vor, der als Journalist, Kriegsreporter, Freund Roosevelts aber auch als Stilikone – stets glattrasiert und in feinem Zwirn - selbst ein abenteuerliches Leben geführt hat, und der als einer der bekanntesten Reporter seiner Zeit gilt. Eine späte, aber interessante Entdeckung. Christine Mathioszek

 

183 Seiten
€ 22,-

GIULIA CAMINITO. DAS WASSER DES SEES IST NIEMALS SÜSS

Aus dem Italienischen von Barbara Keiner
Wagenbach Verlag


Schon Caminitos erster ins Deutsche übersetzte Roman »Ein Tag wird kommen« war ein echtes Leseerlebnis. »Das Wasser des Sees ist niemals süß« steht dem in nichts nach. Es ist nicht das Dolce-vita-Italien, sondern das herbe Italien der Sozialwohnungen, der Spritzen im Hof, der unversicherten Schwarzarbeiterunfälle, der zerfallenden Schulen, der stickigen, überfüllten Pendlerzüge, der mühsamen Stufen zwischen alten Gemäuern, das Italien der jungen Menschen ohne Perspektive. Es ist das Leben der jungen Protagonistin Gaia, der die Mutter eintrichtert, dass nur Bildung aus der Misere heraushelfe. Und so liest sich Gaia durch die Weltliteratur und schafft es zuletzt sogar bis zur Philosophie-Doktorandin, um dann doch als Putzfrau zu enden. So hart die Mutter, so verhärtet die Tochter – und dabei doch immer auf der Suche nach Freundschaft, vielleicht sogar Liebe, die stets in sich fremd anfühlenden, aneinanderreiben Körpern und Verrat endet. Die aufgestaute Wut und Machtlosigkeit gegen das System entlädt sich in hemmungslosen Gewaltausbrüchen Gaias, die weder vor Faustschlägen noch vor Benzinkanistern zurückschreckt. Die Hiebe treiben dann auch Caminitos Sprache temporeich voran, und die gelungene Übersetzung reißt ihre Leser mit. Selten erhellen Sonnenstrahlen den dunklen Grund des Sees, nur manchmal blinkt etwas auf, vielleicht eine versunkene Weihnachtskrippe. Auch in Gaias Leben blinkt manchmal etwas auf, das anmutet wie Zugehörigkeit und Freude - bis sich die nächste Wolke wieder davorschiebt.
Ein kraftvoller Roman über das Erwachsenwerden in prekären Verhältnissen. Wer die italienische Literatur mit Elena Ferrante und Francesca Melandri für sich entdeckt hat, darf und sollte unbedingt hier weiterlesen. Norma Cassau

315 Seiten
€ 26,-

Lea Ypi. Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

Aus dem Englischen von Eva Bonné
Suhrkamp Verlag

Lea Ypi wurde 1979 in Tirana geboren, wuchs als Kind in dem festen Glauben auf, in einem der freiesten Länder der Erde zur Schule gehen zu dürfen, studierte später nach dem Zerfall des osteuropäischen Kommunismus Philosophie in Florenz und Rom und lehrt heute Politische Theorie an der London School of Economics.
In diesem Buch erzählt sie vom „Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“, vom Leben in einem der abgeschottetsten Länder des Ostblocks, von ihrer ungewöhnlichen Familie, in der eine Kindheit in Geborgenheit, Wärme, Klugheit und Abwesenheit von Drill sie zu der hat werden lassen, die sie heute ist. Dieses Buch ist eine lebendige Familienerzählung in Engführung mit der Geschichte Albaniens im 20. Jahrhundert, in dem Fragen nach Freiheit unter verschiedenen politischen Verhältnissen im Zentrum stehen, diese aber nie theoretisch bleiben. Sie begleiten die Menschen in ihrem täglichen Dasein und verlangen ihnen immer wieder die richtigen Entscheidungen ab. Ein überaus kluges, warmherziges Buch, lebendig erzählt, mitreißend humorvoll, stark aber nie verklärend. Wer mehr wissen möchte über das Leben in Albanien vor 1989 und nach dem großen Umbruch, der alles verändert hat, lese dieses Buch. Wen immer wieder die großen Fragen Freiheit wovon und Freiheit wozu umtreiben ebenfalls.
Silke Grundmann-Schleicher

332 Seiten
€ 28,-

SIRKA ELSPASS ICH FÖHNE MIR MEINE WIMPERN. GEDICHTE

Suhrkamp Verlag
80 Seiten
€ 20,-

Sirka Elspaß trifft mit dem Ton in ihren Gedichten einen bestimmten Nerv bei mir, der mich schmunzeln und melancholisch werden lässt. Ihre Gedichte handeln vom Erwachsenwerden, von Alltagssituationen. Davon, mit dem Leben klar zu kommen, und nicht zuletzt von der Beziehung zu ihrer Mutter. Ihre Gedichte sind meist kurz, die Themen und Verse einerseits durcheinander, aber auf eine gewisse Weise auch klar. Ihre Themen, ihr Ton wird vor allem jüngere Menschen ansprechen. Vielleicht können aber ältere Leute durch ihre Gedichte einen Blick in die Gefühlswelt von jungen Erwachsenen heutzutage werfen. Häufig spricht sie ernste Themen an wie Essstörung und Depression, sie verarbeitet ihren Schmerz. Sicher können sich viele junge Leute mit diesen Schwierigkeiten identifizieren. Der oft mitschwingende Humor macht ihre Gedichte aber besonders zugänglich. Johanna Hummelt

CLEMENS J. SETZ MONDE VOR DER LANDUNG

Suhrkamp Verlag

528 Seiten
€ 26,-

Das Abseitige ist Clemens J. Setz nie fremd gewesen. In seinen Prosawerken und Essays setzte er sich unter anderem mit parawissenschaftlichen Phänomenen oder Plansprachen auseinander. So erstaunt es zunächst, dass sein jüngster Roman in einem eher klassisch historischen Panorama angesiedelt ist. Schauplatz ist das Worms einige Jahre nach dem 1. Weltkrieg. Unter den redlichen Bürgern des Rheinstädtchens befindet sich auch Peter Bender. Der glaubt nicht an das knapp 400 Jahre geltende Kopernikanische Weltbild. Für Bender lebt die Menschheit im Inneren einer Kugel. Die Erdmasse wölbe sich also auf einer konkaven Oberfläche um einen Himmel aus Füllgas. Die Hohlerdentheorie findet eine überschaubare Anzahl an Anhängern, die Bender mühselig um sich scharrt. Seine Frau Charlotte verfolgt indes lieber pragmatischere Ansätze der Familienversorgung – und ist deutlich hellsichtiger als Bender. Denn: die Inflation rollt an und nationalistische Stimmen gewinnen an Gewicht. Bender redet die zunehmende Repression gegen seine jüdische Ehefrau klein. Bis die ersten jungen Männer in SA-Hemden durch Worms patrouillieren. Bender muss nun den Realitäten ins Auge blicken. Clemens Setz hat einen kenntnisreichen, gut recherchierten Roman geschrieben. Einer, der durch seine hintergründig ironische Haltung, seine sprachliche Originalität und nicht zuletzt durch seine historische Anschaulichkeit besticht. Tristan Wagner

LISA WEEDA. ALEKSANDRA

Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
Kanon Verlag

286 Seiten
€ 25,-

Gold ist das Geweih der Hirsche, dem Symbol der Familie Krasnov, Weiß sind ihr Fell und das Leinen; Blau die Blumen, Rot die Liebe. Baba Mari, Lisas Urgroßmutter, bestickt ihr weißes Leinentuch außerdem auch mit schwarzem Garn, denn schwarz steht für die fruchtbare Erde des Donbass, und für allen Verdruss. In einer Geheimsprache aus unterbrochenen oder jäh endenden Lebenslinien, Namen und Farben stickt Baba Mari die Geschichte ihrer Donkosaken-Familie heraus. Da ist ihr Vater, der 1904 in den russisch-japanischen Krieg zieht und als gebrochener Mann zurückkehrt. Da ist die Gemeinschaft der Donkosaken, die als Strafe für ihren Kampf auf der Seite des Zaren nach der Revolution »entkosakisiert« und deportiert wird. Da ist ihre Familie, die im Zuge der Bolschewisierung und »Entkulakisierung« durch Brigaden von Roten von Haus und Hof vertrieben und ihres Getreides beraubt wird, wobei die Ehrlosen sogar das Saatgut verschleppen – aber die Familie überlebt den Holodomor, wenn sie auch spindeldürre, fremde kleine Mädchen mit geschwollenen Beinen begraben muss.
Als Baba Maris Tochter Aleksandra elf Jahre nach der Hungersnot 1942 am Bahnhof von Luhansk steht und in den deutschen Viehwaggon steigen muss, der sie als »Ostarbeiter« in eine deutsche Fabrik befördern wird, schenkt Baba Mari ihr das Tuch, sie soll es weiter sticken und niemals aus der Hand geben. Aleksandra kehrt nie zurück in ihre Heimat – aus Angst, dort als Kollaborateurin verhaftet zu werden, und weil sie in der Fabrik den niederländischen und ebenfalls zur Zwangsarbeit verschleppten zukünftigen Vater ihrer Kinder trifft.
Nun, 2014, soll Aleksandras Enkelin Lisa im Auftrag ihrer Großmutter das Leinentuch zurück nach Luhansk bringen, wo die Volksrepublik ausgerufen wurde. Es soll ihrem Cousin Kolja helfen, denn er wird vermisst, das Beharren auf seiner Freiheit, die in seiner Kosakenfamilie immer an oberster Stelle stand, hat ihn in schreckliche Schwierigkeiten gebracht.
Es ist Lisas Urgroßvater Nikolaj, der sie zu Kolja führt, die drei begegnen sich außerhalb der Zeit, im Palast des verlorenen Donkosaken, und dort schließt sich am Ende auch der Kreis, als sich die Silhouetten der Hirsche »auf der dünnen Linie zwischen dem hellblauen Himmel und dem goldgelben Feld« verflüchtigen. In fantastischen Zeitsprüngen nimmt Lisa Weedra ihre Leser auf dem Rücken der Weißen Hirsche mit den goldenen Geweihen mit auf eine Reise durch die bewegte Lebensgeschichte ihrer Ahnen, deren bewaffneter Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit heute das Selbstbild vieler Ukrainer prägt. Norma Cassau



LUKAS BÄRFUSS

VATERS KISTE. EINE GESCHICHTE ÜBER DAS ERBEN
Rowohlt, 95 Seiten,
€18,-

DIE KRUME BROT
Rowohlt, 256 Seiten
€ 22,-

„Meine Herkunft bleibt ungewiss. Ich könnte darüber nicht glücklicher sein.“ stellt Lukas Bärfuss am Ende seines literarisch-essayistischen Textes VATERS KISTE fest, der sich mit dem Erben im ökonomischen und soziologisch-psychologischen Sinne auseinandersetzt.
Fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod seines Vaters, der schon zu Lebzeiten abwesend war, öffnet Bärfuss eine von ihm geerbte Bananenkiste, die Zeugnisse eines Lebens in Armut enthält. Auch ihm sind die Mahnungen und Schuldscheine aus eigener Erfahrung bekannt und zeigen, wohin sein Leben hätte führen können. Die eigene erfolgreiche Entwicklung sieht Bärfuss in seinem Mangel an Erbschaft begründet, der ihm die Freiheit gab, sich selbst zu erfinden und ihn weder geistig noch finanziell fesselte – obwohl, wie er bemerkt, auch sein Vater ein Geschichtenerzähler gewesen sein muss, der im kleinen Berner Oberland immer wieder Mitmenschen überreden konnte, ihm Geld zu leihen. Von dieser Position aus stellt Lukas Bärfuss das gesamte Konzept des Erbens infrage, das hauptsächlich reichen Gesellschaften vorbehalten ist, und erweitert den Begriff auf die Umwelt, die wir unseren Kindern hinterlassen, den Müll im wörtlichen wie übertragenen Sinn. Dabei schlägt er spannende Kapriolen, die zum Nachdenken anregen, ob man mit ihm übereinstimmen mag oder nicht.
In seinem neuen Roman DIE KRUME BROT lassen sich diese Gedanken wiederfinden.
Adelina, das vermeintlich unbegabte Kind italienischer Einwanderer in der Schweiz, findet sich in den 1970er Jahren als alleinerziehende Mutter wieder, die trotz harter Arbeit immer am Rande des Abgrunds balanciert. Damit steht sie in der Tradition ihrer Familie, deren Väter ihre Kinder aus unterschiedlichen Gründen stets als Enttäuschung oder Belastung empfanden. Wie Adelina versucht, sich und ihre Tochter aus diesem Teufelskreis zu lösen, beschreibt dieser Roman, der wie das Essay keine einfachen Lösungen bietet. Christina Mathioszek

FRIEDRICH CHRISTIAN DELIUS. „DARLING, IT'S DILIUS!“ ERINNERUNGEN MIT GROSSEM A

Rowohlt Berlin Verlag

320 Seiten
€ 24,-

Wie schreibt man über das eigenen Leben? Wie findet man eine dem Leben, jedem Leben gemäße Form? Für Friedrich Christian Delius, der in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden wäre, war eines ausgeschlossen: ein chronologisches Erzählen biografischer Stationen. Aber wie dann? Er kommt auf eine unglaublich originelle und bezwingend einfache und bezwingend verschmitzte Idee: Ich erzähle mein Leben frei, assoziativ, sprunghaft und lebendig ohne am Ende an ein solches zu stoßen. Welch ein Einfall! Denn jedem Anfang liegt ein Zauber inne. So komponiert und collagiert und ordnet oder betrachtet er sein Leben indem er zurücktritt, den Buchstaben A nimmt und so blitzlichternd, scharfsinnig und heiter verschmitzt aus seinem Leben erzählt.
Ein Leben voller A… nfänge. So fragmentarisch der erste Anschein, blicken wir Leser auf ein erfülltes, ereignisreiches Leben, das von einer bewundernswert klaren Haltung und politischer Aufklärungskraft, großer Liebenswürdigkeit, von Empathie, Sensibilität, von unerschöpflichem, leisem Humor und dem Willen zur Form zeugt. Schleichers Buchhandlung verdankt diesem Autor unvergesslich eindrückliche Abende im Dahlemer Autorenforum.
Wenn Du nur auch noch B und C und D usw. hinzufügen könntest, lieber Christian.
Silke Grundmann

Emine Sevgi Özdamar. Ein von Schatten begrenzter Raum

Suhrkamp Verlag

Dieser Roman wird mit fortschreitender Lektüre zu einem Zuhause. Das ist anarchistisch, denn die Hauptfigur zieht es rastlos durch ein krisengeschütteltes Europa. Ihre vier Wände wechseln stetig, aber ihre Träume und Begegnungen, auch die Sprache selbst werden zu Orten, an denen ein Leben möglich scheint. Jene besonderen Augenblicke fädelt Özdamar zu einer großen Erzählung auf und bedient sich dabei einer entrückt-poetischen oder unmittelbar-realistischen Sprache.
Eine türkische Schauspielerin spielt auf den großen Bühnen von Berlin und Paris, nachdem sie aus der Türkei geflohen ist. Die Engagements sichern ihr Monat für Monat die Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis. Regisseure wie Besson und Peymann, Dichter wie Heiner Müller und Thomas Brasch haben ihren Auftritt. Trotzdem erschöpft sich das Buch nicht in der Darstellung einer Theater- und Literaturszene. Özdamar kartografiert den Lebensfluss einer Künstlerinnenexistenz, ohne die staatliche Repression in ihrer Heimat auszusparen. Gegen die politische Gewalt stellt Özdamar die Kraft der Kunst. Einer Kunst, die ins Leben eingreift, zum Leben wird: Freundschaft, Liebe, Verletzung und Abschied – diese Vorgänge poetisiert Özdamar, aber banalisiert sie nicht, denn es geht ihr am Ende um die ganz aktuelle Frage des gesellschaftlichen Zusammenlebens im alten und neuen Europa. Tristan Wagner

763 Seiten
€ 28,-

Iwan Schmeljow. Der Mensch aus dem Restaurant

Aus dem Russischen von Georg Schwarz, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Wolfgang Schriek, Die Andere Bibliothek

Skorochodow, der Schnellfüßige, trägt seinen Namen zu Recht, schließlich bedient er unauffällig und flink seit über zwanzig Jahren als Kellner in einem feinen Restaurant feine Gäste. Allzu fein sind die dann allerdings doch nicht, denn sie drücken gerne ihre Zigaretten an den unpassendsten Stellen aus, beschmutzen die Séparées, erbrechen den Stör à la provençale auf dem Korridor, lassen sich junge Mädchen kommen und stecken sich übriggebliebenes Obst und Nachtisch in die Taschen, bis die Hose feuchte Flecken hat. Die Prasserei der Herrschaften steht im krassen Gegensatz zum Leben Skorochodows, den ein Schicksalsschlag nach dem anderen ereilt: Sein Sohn gerät unter den Einfluss der Sozialrevolutionäre und wird verhaftet und verbannt, seine Tochter strebt nach sozialem Aufstieg und ist bereit, dafür ihren »guten Ruf« zu opfern, der Untermieter erhängt sich in der Wohnung, die Polizei macht Scherereien – und das ist noch längst nicht alles. Bei alledem wirkt Skorochodow lange verhältnismäßig ruhig, er ist tief mit den Hierarchien des zaristischen Russlands und dem orthodoxen Glauben verbunden und vertraut darauf, dass Gott es richten wird – ganz anders als seine Kinder, die überzeugt sind, alles selbst richten zu müssen. Ein Generationenkonflikt, wie man ihn aus Turgenews Väter und Söhne kennt. Neben den großartigen, grotesken Restaurantszenen ist vor allem die Sprache bemerkenswert. Aus der Bandbreite von religiös-philosophisch bis grob-mündlich entsteht eine Mischung, die anfangs kurios anmutet, aus der sich aber in der Übertragung des DDR-Übersetzers Georg Schwarz von 1968 eine bemerkenswerte Dynamik mit ganz eigenem Charme entwickelt. Ebenfalls sehr empfehlenswert sind die umfangreichen Anmerkungen sowie das gründliche Nachwort über das bewegte Leben des Autors und die Entstehung des Romans, der schon 1911 in Russland erschien und, wie viele Werke, erst mit der Perestrojka wiederentdeckt wurde. Über all diese Jahre und politischen Wandel dürfte sich doch eines nicht verändert haben: »Das ganze Leben – ein einziges Restaurant«! Norma Cassau

310 Seiten
€ 44,-

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