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Archiv

Frans Emil Sillanpää im Guggolz Verlag

Frommes Elend
285 Seiten
24,00€

Hiltu und Ragnar
140 Seiten
18,00€

hiltu und ragnar

Vier Jahre nach "Frommes Elend" erschien 1923 der Roman "Hiltu und Ragnar" in dem Silanpää das Schicksal von Hiltu beleuchtet, Jussis schon aus dem ersten Werk bekannter Tochter, die im Hause einer Rektorenwitwe ihre erste Anstellung als Hausangestellte antritt. Mit einem Umfang von hundert Seiten unterscheidet sich diese Erzählung im Handlungs- und Spannungsbogen deutlich von "Frommes Elend". Ragnar, der Sohn der Witwe hat Gefallen an dem neuen Dienstmädchen gefunden, daher bedrängt er seine Mutter eine aufgeschobene Reise endlich anzutreten, um mit Hiltu einige Tage allein verbringen zu können. Die jungen Menschen bewegen sich aufeinander zu, für einen Augenblick scheint sich eine Liebesgeschichte anzubahnen, doch die unterschiedliche Herkunft fordert ihren Preis. Ragnar verstört in seinem Drängen Hiltu und schließlich führt eine unglückliche Fügung zum tragischen Ende. Sillanpää beweist in dieser Geschichte sein Geschick für die psychologische Beschreibung, ausführlich werden die Gedanken der Heranwachsenden geschildert, Ragnars Hoffnungen und Enttäuschungen, aber auch die Verwirrtheit Hiltus, ihre Ängste und schließlich ihre Verzweiflung. In der Diskrepanz der Gedankengänge von Hiltu und Ragnar wird die Dramatik ihrer Situation offenkundig, ein gutes Ende war schon von vornherein ausgeschlossen. So lässt sich der Roman als deutliche Gesellschaftskritik lesen, die die moralischen Verwerfungen im finnischen Volk anprangert. Äußerst lesenswert ist auch das Nachwort der Ausgabe, Sillanpääs Biograf Panu Rajala beschreibt kurz und präzise die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von "Hiltu und Ragnar". rb

Herbst 2015

Erika Tophoven: Godot hinter Gittern. Eine Hochstaplergeschichte

Verbrecher Verlag

1956 übergibt der Übersetzer Elmar Tophoven im Auftrag von Samuel Beckett einem fremden Mann einen Umschlag mit Geld. Einige Jahre zuvor hatte dieser Mann sich aus einem Gefängnis an Beckett gewandt: Er habe sein Stück „Man wartet auf Godot“ übersetzt und führe es im Gefängnis auf, nach seiner Entlassung wolle er es mit der „Spielschar der Landstraße“ in ganz Deutschland zeigen. Beckett ist begeistert, sucht nach Möglichkeiten KFL zu unterstützen, schickt ihm Geld und sorgt dafür, dass er Godot auf dem Evangelischen Kirchentag aufführen darf. Schließlich taucht KFL in Paris auf, versucht Beckett zu treffen. Dieser lässt ihm Geld zukommen, eben jenen Umschlag. KFL verschwindet auf Nimmerwiedersehen, hinterlässt nur einen Zettel: Paris sei ihm zu kalt, er gehe in den Süden. Erika Tophoven verfolgt die Spuren jenes KFL von seiner Geburtsstadt, quer durch Deutschland und Frankreich, bis sie sich schließlich an der Cote d’Azur verliert. Sie erzählt die unglaubliche Geschichte eines notorischen Betrügers und Hochstaplers, der seine Opfer – meist auch die Polizei – hinters Licht führen konnte, schließlich auch Samuel Beckett. KFL's Übersetzung von Godot ist leider verschollen geblieben. sd


220 Seiten
21€

Herbst 2015

Adam Zagajewski, Tomas Tranströmer, Philippe Jaccottet: Eine Olive des Nichts. Klangbilder von Burkhard Reinartz

ECM

Poesie und Musik sind Nachbarn, sagt Adam Zagajewski auf diesem Wunderwerk einer CD, die der Regisseur und Autor Burkhard Reinartz für das Münchner Plattenlabel ECM arrangiert, kompiliert, gewoben hat. Reinartz ist nicht nur ausgewiesener Kenner zeitgenössischer Lyrik, er kennt und schätzt auch die Klangkultur von ECM, die seit Jahrzehnten für die Aufhebung stilistischer Grenzen in der Musik und makellose Aufnahmetechnik steht. Aus diesem Archiv schöpft Reinartz und verbindet die Klänge mit den Texten dreier Meister der modernen Dichtkunst: Adam Zagajewski, Tomas Tranströmer und Philippe Jaccotetet. Dabei geht es ihm nicht um musikalische Illustrierung von Gedichten, sondern um ein „Amalgam verschiedener Sprachen.“ Die Musik von Arvo Pärt, Morton Feldman, Ketil Björnstad oder Steve Tibbetts, so Reinartz, „tritt zurück oder schärft ihre Konturen im dialogischen Spiel mit der Sprache.“
Entstanden sind Klanglandschaften von ungeheurer Intensität und berückender Schönheit; aus Worten und Musik wird eine Musik der Worte. Phantastisch. gw

78 Minuten

22,99€

Herbst 2015

Frank Witzel: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969

Matthes & Seitz

Titel und Seitenzahl dieses Buches lassen den Leser ahnen, dass ihm die Lektüre einiges abverlangen wird. Läßt er sich aber darauf ein, macht ihn schon die fulminante Eingangsszene zur Geisel eines irrwitzigen Erzählunterfangens: Der 13jährige Titelheld wird zusammen mit Claudia und Bernd in einem NSU („Weil ein Song von Cream so heißt“) von der Polizei verfolgt, sie haben eine um die Ecke schießende Pistole dabei sowie andere verfängliche Gegestände aus Kaugummiautomaten. Sie entkommen und sehen am Abend im elterlichen Fernsehzimmer die Phantombilder der gesuchten RAF-Mitglieder. Und erkennen sich wieder.

Was ist wahr, erinnert, erfunden in diesem Roman? Ist es überhaupt ein Roman, mit seinem 14seitigen engbedruckten Register, von Adenauer (2 Eintragungen) über Beatles (geschätzte 60, zumal auf einzelne Songs extra verwiesen wird), Foucault (4), Glied (16), bis Zündplättchen (3). Jedenfalls umfängt den Leser sofort die bleierne Zeit der 60er Jahre in der hessischen Provinz, wo es überhaupt nicht swingt. Die Welt der Pubertierenden wird von Dualitäten bestimmt: Evangelisch oder katholisch, GeHa oder Pelikan, Beatles oder Stones, Märklin oder Fleischmann. Die Handlung changiert permanent zwischen Realität und Wahn, die Perspektive des kindlich assoziierenden Helden wechselt mit der des Erwachsenen, der sich in der Psychiatrie befindet und befragt wird: Von einem Arzt? Im Polizeiverhör? Im Beichtstuhl?
Nichts ist sicher in diesem überbordenden Werk , an dem Frank Witzel acht Jahre lang gearbeitet hat. Es ist ein phantastisches Fabulierfest geworden, das sich allen Vergleichen strikt verweigert.

Soviel ist dann doch sicher: Frank Witzel hat das mit Abstand ungewöhnlichste Buch dieses Jahres geschrieben.

Ein Solitär. gw

818 Seiten

29,90€

Sommer 2015

Siri Hustvedt: Die gleißende Welt

Rowohlt

Siri Hustvedt ist eine amerikanische Schriftstellerin, die brillante Essays schreibt, eine Intellektuelle, die Romane von stupendem Esprit und sprachlich feinnerviger Intuition verfasst. In ihrem neuen Buch "Die gleißende Welt" werden wir Leser zu einem (literarischen) Experiment verführt, das am Ende die (Un)Wahrheit und Vorurteile des amerikanischen Kunstbetriebs entlarvt. Hustvedt stellt eine weibliche Künstlerpersönlichkeit, Harriett Burden, in den Vordergrund, die, klug, belesen, philosophisch versiert, sich nicht auf ein Identitätsmerkmal festlegen lassen will. Voreingenommene Zuschreibungen und Bewertungen über ihre Kunst will sie mit einer Täuschung offenlegen: Sie wird ihre Objekte und Installationen unter der Maske männlicher Kollegen zeigen, nur um schließlich nach Jahren ihre eigene Urheberschaft offenzulegen. Das riskante Projekt scheitert, und Harriet Burden muss die Erfahrung machen, dass die Kunstwelt, wenn man ihre Scheinhaftigkeit und narzisstischen Triebe outet, gekränkt zurückschlägt. Mitnichten geht es der Autorin Hustvedt aber darum, über einen immer noch von männlicher Wahrnehmung dominierten Kunst-(und Literatur-)markt feministisch zu reflektieren. Vielmehr veröffentlicht sie das facettenreiche, sinnliche Porträt einer Frau, die durch ihre Tagebuchaufzeichnungen, die Stimmen ihrer Freunde und Kritiker, die Worte des Geliebten und ihrer Kinder, vielschichtig skizziert wird. Für die Winkelzüge in ihrer Biografie, die Wandlung ihrer Handlungen, die verletzliche Seite ihrer Suche nach Anerkennung findet Hustvedt eine suggestive Sprache. Und unterstellt ihrer Protagonistin noch so manch gelehrte Fußnote, als wolle sie sagen, dass die Komplexität einer Persönlichkeit selbst mit den klügsten Worten nicht eindeutig und in Gänze zu erfassen sei. be

496 Seiten
22,95€

Sommer 2015

Edith Pearlman: Honeydew

Ullstein

Wie kann es sein, dass wir bisher noch nichts davon wussten: Eine Schriftstellerin von unheimlicher Weisheit, eine Erzählerin in den Kleidern einer mal nüchternen, mal verzeihend zärtlichen Realistin, eine lustvolle Beobachterin – das ist Edith Pearlman. Endlich kann man die Kurzgeschichten dieser fast achtzigjährigen amerikanischen Ausnahmeschriftstellerin lesen und unumwunden den Worten ihres Verlegers zustimmen: „ Jedes Mal, wenn ich eine ihrer Kurzgeschichten zu Ende gelesen habe, fühle ich mich verstanden und versöhnt damit, dass ich ein Mensch bin". Die Menschen, und das wird in diesen 20 Geschichten so banal wie verblüffend klar, wollen einander lieben, sie sorgen sich, versuchen alles, um Garantien für ein halbwegs geglücktes Leben zu erhaschen. Und scheitern – weil sie sich sprach- und verständnislos gegenüber stehen, weil ihre Arglosigkeit nicht selten Oberflächlichkeit und Mutlosigkeit, „ein Ruch von Betrügerei" verrät. Und dann ist das Leben zu Ende: „ Dann würden sie aus der Geschichte entschwinden und alle ihre Ergänzungen und ihre Verlässlichkeit und Selbstverleugnung und Unzufriedenheit mitnehmen." Pearlman registriert das alles, wie eine Wissenschaftlerin ( Biologin, Anthropologin) zuweilen staunend auf diese seltsame Spezies Mensch blickt. („ Die Mutter: ein strenger Knoten, Zinn mit Bronze gemischt." „Er mochte Objekte von besonderer Schönheit wie die letzten rubinroten Tropfen in einer Flasche Hustensaft ...".) Und immer wieder unterläuft sie mit erzähltechnischer Finesse die Erwartungen, die man an den Verlauf einer Geschichte richtet, überrascht uns mit Wendungen, dass man ganz froh wird, weil der Mensch sich widersprüchlich, unerschrocken, unbezähmbar zeigen darf. Mrs. Pearlman weiß etwas über uns, das sie uns in dieser kristallin schönen Sprache beschreibt wie kaum eine andere Erzählerin. be

320 Seiten
20,00€

Sommer 2015

Norbert Scheuer: Die Sprache der Vögel

Beck
 
Paul Arimond meldet sich freiwillig als Bundeswehrsanitäter nach Afghanistan. Nicht aus Abenteuerlust oder um die Freiheit der westlichen Welt am Hindukusch zu verteidigen, sondern um seiner von Schuld und Verlust belasteten Vergangenheit zu entkommen. Im Lager und unterwegs zu Einsätzen, inmitten von Trostlosigkeit und Gefahr, gibt er sich ganz seiner ans Manische grenzenden Leidenschaft der Vogelbeobachtung hin. Pauls Vater hat ihm früh diesen genauen Blick für Details in der Natur beigebracht, und so bekommt die fremde afghanische Landschaft eine ganz andere Färbung. Weil in ihr der aschgraue Moabsperling wohnt, die Brachschwalbe mit ihrem zirkelnden Flug, der purzelbaumschlagende Bienenfresser, die Türkentaube mit ihrem sanftmütigen Blick. Sie alle kennt Paul mit ihren lateinischen Namen, und mit einer raffinierten Technik verfertigt er aus Kaffeesud auf grobkörnigem Papier ihre Porträts: aquarellartige Zeichnungen, die an fernöstliche Tuschmalereien erinnern (und die das Buch wesentlich bereichern). Während Paul nachts malt, hört er die Taliban-Bomben unweit des Lagers in der Wüste einschlagen.
Fliegen, die Sprache der Vögel verstehen – dieser alte Traum zieht sich als Motiv durch den überaus kunstvoll gebauten, vielschichtigen, leisen Roman. Norbert Scheuer blendet die Grausamkeit des Krieges nicht aus, an einigen Stellen trifft sie den Leser mit enormer Wucht. Der Grundton des Buches aber ist ein poetischer. „Ich glaube nicht, dass Vögel allein zum Zweck der Fortpflanzung singen," notiert Paul in sein Tagebuch. „Irgendetwas existiert im Leben, das mehr ist als wir selbst und für das es keine Sprache gibt. Vielleicht liegt darin der Grund, dass Vögel singen."
gw
 

Amos Oz: Judas

Suhrkamp
 
"Dies ist die Geschichte der Wintertage Ende des Jahres 1959, Anfang 1960. In dieser Geschichte gibt es Irrtum und Lust, es gibt enttäuschte Liebe, und es gibt so etwas wie die Frage nach Religiosität, die hier unbeantwortet bleibt."
So der Beginn des neuen Romans Amos Oz' und schon hat er uns Leser eingefangen.
In diesem Winter gibt Schmuel Asch, 25 Jahre jung, sein Studium, das er mit einer Arbeit über Jesus aus jüdischer Sicht abschließen wollte, in Jerusalem auf. Seine Eltern können ihn nicht weiter finanziell unterstützen, die Freundin hat ihn verlassen, um einen früheren Freund zu heiraten. Schmuel denkt daran, die Stadt zu verlassen. Er bleibt, als ihm eine ungewöhnliche Aufgabe angeboten wird: Im Hause des alten, gebrechlichen, aber intellektuell vollkommen präsenten Gershom Walds wird er gegen Kost und Logis dessen nächtlicher Gesprächspartner und Vorleser und verliebt sich in dessen ebenso schöne, wie kühl kapriziöse und seelisch schwer verletzte Schwiegertochter Atalja Abrabanel. Wir ahnen es: Es wird eine ganz und gar unmögliche Liebe.
Der eigentliche Protagonist des Romans aber ist Judas Ischariot, der Archetypus des Verräters.
Der Verrat ist das zentrale Thema dieses Buches und nur ein Autor dieses Formats ist in der Lage, dieses Motiv so grandios und gleichzeitig unaufgeregt minimalistisch, drei Zimmer, eine Küche, drei Protagonisten, historisch, politisch und psychologisch zu öffnen.
Aber wer ist ein Verräter? Und was bewegt Menschen, andere, und nicht selten die engagiertesten, des Verrats zu bezichtigen? War Judas ein Verräter? Amos Oz gibt eine sehr kontroverse, ja provokante Antwort: " Nämlich, dass manchmal gerade der, den man einen Verräter nennt, der loyalste, liebevollste und treueste von allen ist." Und damit nicht genug: " Judas Ischariot ist das Tschernobyl des Antisemitismus.... Ich hatte das Bedürfnis, diese ganze Sache auf den Kopf zu stellen."
Amos Oz hat in diesem Roman die existentiellen Themen seines Landes und Volkes in eine atmosphärisch dichte und starke Geschichte verwandelt, die souveräne Parallelführung historischer und gegenwärtiger Themen und Motive lassen eines erkennen: dies ist Weltliteratur.
"Die hebräische Sprache ist mein einziges Zuhause," sagt Amos Oz. Danke, Miriam Pressler, dass wir Einlass finden.
Man wiederholt sich mit der Frage: Wann wird dieser Autor endlich in Stockholm gebührend für sein literarisches Lebenswerk geehrt? Geben wir die Hoffnung nicht auf, der Autor ist 75 Jahre jung.
sg
 
323 Seiten
22,95€

Luftsprünge. Eine literarische Reise durch Europa Herausgegeben von Thomas Geiger.

dtv premium
 
Europa, dieser kleine und dicht besiedelte Kontinent, Europa, so heißt es im Vorwort des Herausgebers Thomas Geiger, Programmkurator des Literarischen Colloquiums Berlin, zu dieser umfangreichen, sehr eindrücklichen Anthologie, "ist einer der abwechslungsreichsten und schönsten Großräume der Erde geblieben." Europa - das ist überbordende Sprach-, Kultur- und Lebensvielfalt. Aus dieser Vielfalt erwächst Europas Stärke und diese Bandbreite gilt es zu verstehen.
"Dieses europäische Lesebuch möchte dazu beitragen, über reale aber auch über Sprachgrenzen hinweg, den Blick für diese Vielfalt zu öffnen."
Aber wie vermisst man diesen Kontinent? Geographisch, historisch, politisch, kulturell?
Halten wir uns an die Sprachen: 35 bekannte sowie unbekannte Autoren aus ebenso vielen Ländern sind mit Texten aus jüngerer und jüngster Zeit in diesem auch ästhetisch schön gestalteten Band versammelt und repräsentieren auf ihre Art diesen erst seit 25 Jahren wieder vereinten Kontinent. Ausgesucht wurden sie Beiträge einzig ihrer literarischen Qualität wegen: Colm Tóibín, Tomas Espedal, Davide Longo, Melinda Nadj Abonji, Georgi Gospodinov, Juri Andruchowytsch, Eva Menasse, Zsófia Bán und viele, viele andere laden uns ein, mitzukommen in die Lebens-, Gefühls- und Sprachwelten ihres jeweiligen Landes.
Über Europa kann man allerdings nicht erzählen, ohne und gerade auch von den großen Umbrüchen, schwierigen Übergängen, hohen Erwartungen und enttäuschten Hoffnungen zu sprechen. Auch davon zeugen diese Texte: erzählend, essayistisch, lyrisch, jeder von herausragenderer literarischer Klasse. Gegenwartsautoren haben es oft schwer, außerhalb ihrer Sprachgrenze wahrgenommen zu werden. Damit dies überhaupt gelingt, bedarf es der "stillen Helden des Literaturbetriebs: der Übersetzer, ohne die ein Projekt wie dieses unmöglich wäre."
Entstanden ist eine poetische und politische Vermessung Europas, eine Geländeermittlung und Positionsbestimmung. Das Buch möchte Neugierde erwecken auf Unbekanntes und neu zu Entdeckendes und Lust machen auf das (Weiter)Lesen, das Reisen und das Sprachenlernen. Es gilt,
den Blick für diesen großartigen Lebensraum zu schärfen. Das ist ausnahmslos gelungen.
sg
 
384 Seiten
16,90€

Joseph Roth: Reisen in die Ukraine und nach Russland

Beck Verlag
 
Ende der 20er Jahre bereiste Joseph Roth im Auftrag der Frankfurter Zeitung eine Region, deren politische Entwicklung ihn Jahre zuvor mit Enthusiasmus und Hoffnung erfüllt hatte (und in der er 1894 geboren wurde, in Brody, damals k.u.k. Monarchie, heute Ukraine). Jetzt war die russische Revolution seit Jahren vorbei, und die Niederschrift seiner Reiseerfahrungen veranlaßte Walter Benjamin zu der nicht ganz hämefreien Bemerkung, Roth sei als überzeugter Bolschewist nach Rußland gekommen und kehre als Royalist in den Westen zurück.
Roth und Benjamin waren einander nicht sonderlich zugetan. Beim Lesen dieser Berichte wird aber deutlich, daß es eine Reise der Desillusionierung war. Gleichwohl sind Roths Beobachtungen von jener kristallinen sprachlichen Genauigkeit, die auch seinen Romanen und Erzählungen eigen ist. Ob es um Prostitution, Zeitungszensur oder das ärmliche Leben der russischen Bauern geht: immer ist eine vorurteilslose Einfühlsamkeit spürbar, die den heutigen Leser unmittelbar berührt.
Natürlich kann man das Buch nicht zur Hand nehmen, ohne an die gegenwärtige Entwicklung in Joseph Roths Geburtsregion zu denken. Und man liest: „Die Ukrainer, die in Rußland, in der Tschechoslowakei, in Rumänien vorhanden sind, verdienten gewiß einen eigenen Staat, wie jedes ihrer Wirtsvölker. Aber sie kommen in den Lehrbüchern, aus denen die Weltaufteiler ihre Kenntnisse beziehen, weniger ausführlich vor als in der Natur – und das ist ihr Verhängnis."
Textura heißt diese wunderbar gestaltete Reihe des Beck Verlags, in der Joseph Roths Reisenotizen erschienen sind. Textura heißt Gewebe, und treffender könnte der Name nicht sein für eine Sammlung, die sich um randständige Texte: von Sappho, Boccaccio, Kafka und Trakl über die Klassiker der Moderne bis in die Gegenwart, jeweils hervorragend kommentiert und graphisch exquisit ausgeführt (den vorliegenden Band eröffnet in der Klappbroschur eine Karte der Sowjetrepubliken um 1023).
Ein ornamentreiches Gewebe der Weltliteratur, an dem wir, lesend, mitwirken.
gw
 
136 Seiten
14,95 €

Gila Lustiger: Die Schuld der Anderen

Berlin Verlag
 
Ein Gesellschaftsporträt, ein Wirtschaftskrimi, die Geschichte eines nicht mehr ganz jungen Mannes aus gutem Hause, das alles ist Gila Lustigers neuer Roman. Sehr pointiert beschreibt sie die Zerrissenheit der französischen Gesellschaft: Stadt gegen Peripherie und Provinz, Intellektuelle und polititsche Eliten, Juden, Muslime, Großbürgertum; alle sind sich fremd.
Marc Rappaport, Absolvent französischer Eliteschulen, der Vater ein jüdischer Intellektueller, die Mutter einer Wirtschaftsdynastie entstammend, schreibt als Journalist über Mord, Korruption,
Finanzskandale, was von seiner Familie heftig missbilligt wird.
Für seine Zeitung soll er einen kurzen Bericht schreiben über einen 27 Jahre zurückliegenden Mord an einer jungen Prostituierten. Der Täter wurde durch eine erst jetzt mögliche DNA-Analyse überführt. Marc sieht das Foto des Beschuldigten, ein unauffälliger Familienvater aus der Provinz.
Zuerst möchte er nur ergründen, ob und wie eine so lange verborgene Tat einen Menschen verändert. Es gelingt Marc auf nicht ganz offiziellem Weg, mit dem Beschuldigten zu sprechen: Danach ist er überzeugt, daß dieser Mann nicht der Mörder sein kann.
Er beginnt, wie immer wenn ihn ein Thema gepackt hat, besessen zu recherchieren. Er reist in die kleine Provinzstadt in Lothringen aus der Opfer und Täter stammen, in ein früher wohlhabendes Industriegebiet Frankreichs, wo die Menschen heute um die verbliebenen Arbeitsplätze fürchten.
Kaum einer in der Stadt will mit ihm sprechen. Mühsam gelingt es ihm, das große Schweigen nach und nach aufzubrechen. Dabei kommt er einem die ganze Region beherrschenden Chemieskandal (den es wirklich gab) auf die Spur und kann beweisen, dass der Beschuldigte nicht der Mörder ist.
Auch er bekommt am Ende eine Antwort, auf die er nicht gefasst war: Seine Familie ist in die Skandale verwickelt. Marc fragt sich, wie schuldig auch er ist, der jahrelang über die Schuld der Anderen  geschrieben hat und dabei blind für sein eigenes Umfeld war.
Ein sehr spannender, kenntnisreicher und kluger Roman über nicht nur französische Verhältnisse. rg
 
492 Seiten
22,99€

Thomas Wolfe: Von Zeit und Fluss

Manesse

Eugene Gant, dessen Kindheit Thomas Wolfe in „Schau heimwärts, Engel" erzählt, macht sich zu Beginn des großen Romans „Von Zeit und Fluss" auf den Weg nach Harvard: ein Schritt aus der Familie heraus in ein neues Leben, aber auch aus dem konservativen Süden der USA in den sagenhaften, fortschrittlichen und modernen Norden. Von dort wird Eugenes Weg weiterführen in das New York der 20er Jahre und schließlich nach Paris. Wolfes Buch ist die großartige Geschichte einer Jugend, der Entwicklung einer Persönlichkeit, die um ihre Unabhängigkeit in einer turbulenten Welt kämpft. Im rhythmischen Wechsel aus Überschwang und Verknappung erzählt Wolfe ein Leben, das sich voller Hoffnung und Erwartung der Welt öffnet, das niemals ruhen sondern alles erfahren will. „Von Zeit und Fluss" ist nicht nur Bildungsroman; es ist vielleicht das, was dem Projekt der „Great Amrican Novel" am nächsten kommt: ein ausuferndes, faszinierendes Portrait eines fast schon mythischen Amerikas, das keinen Leser unberührt lassen wird. sd
 
1193 Seiten
39,95 €

Iwan Bunin: Vera

Dörleman.

Iwan Bunin, den ersten russischen Nobelpreisträger und letzten Klassiker der Generation um Tschechow und Tolstoi, muss man den deutschsprachigen Lesern nicht mehr vorstellen: Seit dem Erscheinen des Bandes „Ein unbekannter Freund" 2003 kümmert sich der kleine und feine Dörlemann Verlag kontinuierlich um die Erschließung dieses grandiosen Erzählwerks. Inzwischen liegt mit „Vera" der siebente Band dieser verdienstvollen Werkausgabe vor, und wieder ist man benommen von der sinnlichen und detailversessenen Schilderung des russischen Landlebens zur Zarenzeit. In den fünf Erzählungen, 1912 entstanden, geht es um scheiternde Träume, erkaltende Liebe und um den Versuch, zu Fuß die Sonne zu überholen.
Das Bändchen ist, wie von diesem Verlag gewohnt, mit großer handwerklicher Sorgfalt hergestellt, den blauen Leineneinband ziert ein Bild von Kasimir Malewitsch, das in seiner lichtdurchfluteten Farbigkeit mit den Erzählungen korrespondiert: ein Buch, das den Sinnen schmeichelt. gw

160 Seiten
21.90 €

Sabrina Janesch Tango für einen Hund

Aufbau.

Für Ernesto Schmitt, den siebzehnjährigen Protagonisten aus Sabrina Janeschs drittem Roman, sollte das Leben gerade so richtig beginnen: Der öden Lüneburger Heide wollte er den Rücken kehren, nach Südamerika aufbrechen und mit einer „knallharte[n] Doku" zurückkehren, die ihm den ersehnten Platz an der Filmhochschule seiner Wahl sichern sollte. Soweit die Theorie. In der Praxis begegnet dem Leser ein resignierter Ernesto, dessen Ziel in unerreichbare Ferne gerückt ist, weil dieser für einen fremd verschuldeten Brand 200 Sozialstunden aufgebrummt bekommt. Den Leser erwartet folglich keine knallharte Doku Südamerikas, sondern eine Einführung in den Lüneburger Oikos der Familie Schmitt. Nach diesen interessanten wie amüsanten Schilderungen des Adoleszenten nimmt die Geschichte jedoch rasch an Fahrt auf, dem glaubwürdigen Charakter Ernesto Schmitt wird sein ebenso eigensinniger wie liebenswürdiger Onkel Alfonso Schmitt y Camba mitsamt gleichsam eigensinnigem doch weniger liebenswürdigem uruguayischen Hirtenhund namens Astor Garcilaso de la Luz y Parra zur Seite gestellt. Das für Leser und Ernesto in gleicher Weise zunächst etwas unglaubwürdige Duo aus Südamerika wirkt jedoch als Zünglein an der Waage und kurz darauf sitzt das holprige Dreiergespann im nicht minder holprigem Fiat Panda – Kosename „Möhre" – auf dem Weg Richtung Hundeschau in Bad Diepenhövel und auf der Flucht. Ernesto und Alfonso werden zu Gesetzlosen und die Lüneburger Heide zum Wilden Westen, vermeintliche Feinde entpuppen sich als Freunde, junge Hirten werden zu weisen Einsiedlern. Sabrina Janesch führt die Handlung mehrmals an den Rand des Absurden, doch ihr Geschick für Komik einerseits und das rührende Verhältnis von Neffe und Onkel, Alt und Jung andererseits, machen den „Tango für einen Hund" bis zuletzt lesenswert. Tschick-Leser werden es mögen. rb
 
303 Seiten
19.95 €

Jakob Arjouni: Die Kayankaya-Romane

Diogenes
 
Jakob Arjouni hat mit Kemal Kayankaya eine umwerfende und einnehmend robuste Figur erschaffen. Kayankaya, ein türkische Privatdetektiv, der in einer deutschen Pflegefamilie aufgewachsen ist, wirft so gut wie alle Türken-Klischees über Bord und spielt mit diesen auf eine großartig humorvolle Weise, auch wenn einem die Witze gern mal im Hals stecken bleiben. Liest man Arjounis Bücher, ist man sofort drin, in der untersten Schicht der Gesellschaft, am Frankfurter Bahnhofsviertel, zwischen Dirnen und Dealern, zwischen Mördern und Unschuldigen. Man begleitet Kayankaya bei seinen Streifzügen, seinen mehr als ausufernden Alkoholexzessen bis an die Schmerzgrenze (Scotch mit Kaffee, Scotch ohne Kaffee, literweise Bier, geklauter Mariacron). Durchlebt seine soziologisch klaren Gedankengänge, die vor Sarkasmus nur so triefen. Man bangt um Kayankayas Gesicht, wenn er es mal wieder nicht lassen kann, eine Gemeinheit auf sich sitzen zu lassen oder er selbst verbal großzügig austeilt. Während er Offenbach als die „hässlichste Stadt der Welt" beschreibt, lacht man schallend. Bei Beschreibungen zahlreicher Frankfurer Spelunken wie „Heinis Hühnerpfanne" oder die einer dickeren älteren Thekenkraft („Sie wuchtete sich zu einem Kühlschrank, der neben ihr wie eine Zigarettenschachtel aussah ...") wird man dem nächst verfügbaren Menschen vorlesen wollen, um gemeinsam zu lachen. Bei all der sprachlichen Eleganz und den mit Liebe gestalteten Figuren dieser Romane, ist auch die Krimi-Handlung bemerkenswert fein konstruiert und das diesem Genre wesenseigene „Wer war denn nun der Mörder?" wird durch überraschende Wendungen häufig ganz ungewöhnlich beantwortet. Zum 50. Geburtstag des leider viel zu früh verstorbenen Jakob Arjouni erscheinen alle Kayanaka-Krimis in einer wunderschön gestalteten Diogenes-Ausgabe im Schmuckschuber. Ein wunderbares Geschenk für Krimi-Freunde! tf
 
1080 Seiten
29.90 €

Hans Zischler: Das Mädchen mit den Orangenpapieren

Galiani-Verlag
 
Es gibt diese Bücher, die, zwar schmal geraten, einem sofort das Gefühl geben: Hier stimmt einfach alles. So eines ist Hans Zischlers kleiner, aber überaus perfekter Roman über eine Jugend in den 50er Jahren in Süddeutschland.
Marie lebt mit ihrem Vater allein. Sie sind neu in der Gegend, aus Dresden zugewandert.
Die Welt hat sich noch kaum vom Krieg entfernt, Entbehrungen allerorts, Lebenshunger auch. Alles scheint leicht in diesem Buch. Ernst- und dauerhafte Freundschaften werden wie nebenbei geschlossen, Lehrer sind, was sie sein sollten, nämlich verständnisvoll, fördernd, weltoffen, verlässlich und aufgeschlossen und Kinder werden ernst genommen in ihren Bedürfnissen und ihrer Freude, sich dem Leben zuzuwenden.
Orangenpapiere (wer kennt sie noch?), diese zarten, feinen, luftigen, kleinen Hüllen schützen eben nicht nur kostbare Südfrüchte, sie erzählen uralte Geschichten und manchmal führt das dazu, dass die Phantasie sich aufmacht, schwebend leicht und grenzenlos. Marie jedenfalls ist zu beneiden. Und der Leser, der diese Lektüre noch vor sich hat, ebenfalls. sg
 
112 Seiten
16.99 €

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