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JEAN-MARIE BLAS DE ROBLÈS: DER MITTERNACHTSBERG
Ein kluger, kleiner Roman, unprätenziös und zurückhaltend erzählt von einem französischen Romancier, den es in Deutschland zu entdecken gilt. Schon 2012 veröffentlichte der Fischer Verlag einen üppigen Roman von gerade barocker Überfülle, der aber bis heute hier ein Geheimtipp ist („Wo Tiger zuhause sind“).
Im vorliegenden Roman ist die Erzählweise dem Thema entsprechend wesentlich asketischer. Zwei sehr unterschiedliche Menschen, eine recht alter etwas zauseliger Hausmeister einer Jesuitenschule in einer Kleinstadt in Frankreich wird bekannt mit einer allein erziehenden jungen Frau aus seinem Hause und nach einigen Begegnungen und kleinen Ereignissen entschließen sie sich zusammen eine Reise nach Tibet zu unternehmen. Warum sie das tun und was ihnen dort widerfährt wird hier nicht erzählt, um die Freude und die Überraschung beim Lesen nicht zu verderben, nur soviel sei verraten: der alte Hausmeister hat sich sein Leben lang schon mit Tibet und seiner Kultur und Religion befasst und kann auch die Sprache sprechen. So wird der Aufenthalt für beide keine touristische Expedition, sondern für jeden ein tief existenzielles Erlebnis. Der Leser bleibt aber verschont von Kitsch und new-age-Geraune, sondern wird beschenkt mit einer lebensklugen Geschichte, die lange nachwirkt.
Am Ende enttarnt der Verfasser auch noch systematisch einige Mythen, die sich um das Thema einer angeblichen Verbindung zwischen Tibet und dem Dritten Reich ranken. Ausgezeichnet recherchiert. kp
176 Seiten
18 €
JEAN-MARIE BLAS DE ROBLÈS: DER MITTERNACHTSBERG
Ein kluger, kleiner Roman, unprätenziös und zurückhaltend erzählt von einem französischen Romancier, den es in Deutschland zu entdecken gilt. Schon 2012 veröffentlichte der Fischer Verlag einen üppigen Roman von gerade barocker Überfülle, der aber bis heute hier ein Geheimtipp ist („Wo Tiger zuhause sind“).
Im vorliegenden Roman ist die Erzählweise dem Thema entsprechend wesentlich asketischer. Zwei sehr unterschiedliche Menschen, eine recht alter etwas zauseliger Hausmeister einer Jesuitenschule in einer Kleinstadt in Frankreich wird bekannt mit einer allein erziehenden jungen Frau aus seinem Hause und nach einigen Begegnungen und kleinen Ereignissen entschließen sie sich zusammen eine Reise nach Tibet zu unternehmen. Warum sie das tun und was ihnen dort widerfährt wird hier nicht erzählt, um die Freude und die Überraschung beim Lesen nicht zu verderben, nur soviel sei verraten: der alte Hausmeister hat sich sein Leben lang schon mit Tibet und seiner Kultur und Religion befasst und kann auch die Sprache sprechen. So wird der Aufenthalt für beide keine touristische Expedition, sondern für jeden ein tief existenzielles Erlebnis. Der Leser bleibt aber verschont von Kitsch und new-age-Geraune, sondern wird beschenkt mit einer lebensklugen Geschichte, die lange nachwirkt.
Am Ende enttarnt der Verfasser auch noch systematisch einige Mythen, die sich um das Thema einer angeblichen Verbindung zwischen Tibet und dem Dritten Reich ranken. Ausgezeichnet recherchiert. kp
176 Seiten
18 €
Matthias Zschokke: Ein Sommer mit Proust
Wallstein Verlag
Matthias Zschokke opfert einen ganzen Sommer, um sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu begeben? Er verlangt es von sich, da dies einer der großen Romane der Weltliteratur sei, die man gelesen haben muss, wie Joyce's „Ulysses“ oder Musils „Mann ohne Eigenschaften“? Nur damit er nicht bis zum Grab denken muss, er hätte sich vor einem wirklich Großen gedrückt? Das klingt beunruhigend, wenn man weiß, daß Zschokke in seinem Roman „Die strengen Frauen von Rosa Salva“ (2014) mit Sottisen gegen Proust nicht eben gespart hat: „Ich ertrage ihn nicht...Das ist Prosa für solche, die siegen lernen wollen. Eine Bibel für angehende Führungskräfte.“
Das Experiment beginnt dann auch unter dunklen Vorzeichen. In der Werkausgabe der edition suhrkamp findet er auf den ersten 250 Seiten mindestens 20 Druckfehler. Nach den ersten beiden Bänden fürchtet er, nicht durchhalten zu können: „Das ist mir alles viel zu mastig... Was immer ihm begegnet oder geschieht, ist ihm Anlass, sich in eine Pose zu werfen und sich in dieser Pose andächtig bewundernd abzupinseln. Er ist abgöttisch vernarrt in seine eigene Empfindsamkeit...“ Zum Glück hat Zschokke Freunde an seiner Seite, eine Übersetzerin und einen Proust-Spezialisten (unschwer als Luzius Keller erkennbar), denen er per Brief/Mail seine Irritationen mitteilt. Und die ihm undifferenzierte Schroffheiten („Proust-Würgereiz“, „Speichelleckerische Verehrung der upper class“) nicht nur nicht übelnehmen, sondern geduldig wertvolle Hinweise zum Kontext und zur Übersetzung liefern.
Es bleibt eine Achterbahnfahrt der Lektüre-Gefühle, von euphorischem Lob („Zum Umarmen!“) bis zur letzten Wertung („Als Ganzes ein entsetzliches Buch.“) – Zschokke wird, man ahnte es, nicht froh mit Proust. Dass man diesen schmalen Band dennoch mit großem Vergnügen liest, liegt an der ungemein sympathischen und entwaffnenden Art, wie Zschokke seine launischen und, natürlich, oft ungerechten Einwände formuliert. Bedenkenswert sind sie allemal, für Proust-Einsteiger wie für Proust-Spezialisten. gw
62 Seiten
12,90 €
Kent Haruf: Unsere Seelen bei Nacht
Diogenes Verlag
Eine verwitwete Frau, um die 70 Jahre, fasst sich ein Herz und fragt einen einen etwa gleichaltrigen Mann aus der Nachbarschaft, ob sie die Nacht bei ihm verbringen könne – ohne anzügliche Absichten, nur um die Einsamkeit abzumildern. Verdutzt, aber neugierug stimmt er zu und daraus entwickelt sich ein Verhältnis voller Liebenswürdigkeit und Vertrauen. Dies alles spielt sich in einer (fiktiven) amerikanischen Kleinstadt ab, von einem hier nahezu unbekannten amerikanischen Autoren, Kent Haruf (1943-2014), gekonnt in Szene gesetzt. Natürlich empören sich die sogenannten rechtschaffenen Mitbürger und auch die Kinder der beiden beobachten das zunehmend enger werdende Verhältnis mit Argwohn, zumal sie sich im Laufe der Zeit gemeinsam um einen Enkel kümmern, der ihre Fürsorge dringend braucht, da er unter der Trennung seiner Eltern sehr leidet.
Dies alles ist leise und diskret erzählt, niemals kitschig und immer glaubwürdig, und wenn man das Buch nach seinem melancholischen Ende schließt, bleibt man als Leser mit einem seltenen Gefühl zurück, das das Buch durchzieht – menschliche Güte. kp
208 Seiten
20,00 €
Alexander Goldstein: Denk an Famagusta
Aus dem Russischen von Sabine Kühn
Matthes & Seitz
„Ich bin absolut kein Historiker, vielleicht bringe ich etwas durcheinander, in meinem löchrigen Kopf geht alles drunter und drüber, löffeln Sie den Brei der Chronologie doch selber aus.“
Sollte man sich als Leser diesem erklärtermaßen unzuverlässigen Erzähler für mehr als 500 Seiten anvertrauen? Man sollte es unbedingt, vorausgesetzt man verabschiedet sich konsequent von bisherigen Lesegewohnheiten und Erwartungshaltungen. Es gibt keine nacherzählbare Handlung in dieser Wunderkammer eines Romans; Zeitebenen und Orte wechseln und verschränken sich ständig, Goldsteins melodisch-mäandernde Sätze durchmessen mühelos auf wenigen Seiten ganze Jahrhunderte.
Die Stelle des Helden nimmt eine Stadt ein: Baku, aserbaidschanische Erdölmetropole am Kaspischen Meer, Schnittstelle zwischen Orient und Okzident, zwischen Tradition und Moderne. Im bunten Völkergemisch dieser Stadt lässt Goldstein ein raffiniertes Geflecht aus Erinnerungen, Alltagsszenen und erotischen Eskapaden erstehen, kaleidoskopartig, rhapsodisch, detailreich und voll des grimmigsten Humors. Der Untergang der „Union der sozialistischen Sowjetrepubliken“ wird von deren östlichstem Rand her beobachtet, aber noch dieser Abgesang ist voller liebevoller Schilderungen des Alltagslebens. „Ich, der den Osten hasste, lebte mein Leben lang im Osten.“
Alexander Goldstein, 1957 in Talinn geboren, emigrierte 1990 wie viele Juden aus dem zerfallenden Sowjetimperium nach Israel, wo er 2004 starb. „Alles mitbringen, nichts vergessen“ – aus dieser simplen Poetologie formte er diesen ausufernden, überbordenden, faszinierenden Erzählstrom, der seinesgleichen nicht hat. gw
540 Seiten
30,00€
Nina Bußmann: Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen
Suhrkamp
Nelly, eine Seismologin, verschwindet in der Karibik. Beim Rundflug mit einer Propellermaschine, den sie mit einem Freund unternimmt, verschwindet das Flugzeug plötzlich vom Radar. Das Wetter war gut, die Maschine war vollgetankt, ein Absturz erscheint unwahrscheinlich. Als nach einigen Monaten Trümmerteile geborgen werden, scheint der Beweis gefunden zu sein. Doch von den beiden Passagieren fehlt jede Spur. Verfolgt wird die Suche nicht nur von Nellys Partner, der in der weiteren Handlung keine große mehr spielt, sondern vor allem auch von ihrer langjährigen Freundin, die namenlos bleibt und aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird. Als diese der verschwunden Nelly in die Karibik nachreist, begibt sie sich nicht nur auf die Suche nach Antworten bezüglich des Absturzes, sondern auch nach der Antwort auf die Frage, wer Nelly eigentlich war. Durch Erinnerungen, Gespräche mit Bekannten, gefundene Dokumente und Vermutungen versucht sie ein ‚objektives’ Bild von Nelly zu schaffen. Gefärbt ist diese vermeintliche Objektivität jedoch durch die Erinnerung der jeweiligen Personen auf die sie sich bezieht – Nellys Kollegen auf einem Forschungsschiff, ihre Mitbewohnerinnen in der Karibik, ihre Affären und Partner.
Der Roman ist atmosphärisch sehr stimmig. Ob Studentenwohnheime in Deutschland, Forschungsschiffe auf hoher See oder Wohngemeinschaften in der Karibik, ich befand mich gefühlt sofort an den Orten, die Nina Bußmann beschreibt. Die Freundschaft der beiden Frauen wird als eher unterkühlt, kalkuliert und von Missverständnissen geprägt beschrieben. Keine der beiden kann die andere ‚richtig’ wahrnehmen. Beide lebten in ihrer eigenen Blase, gefangen nicht nur an ihrem jeweiligen Ort, sondern auch in ihren Gedanken.
Die beiden Frauen zeigen außerdem Anzeichen mentaler Instabilität, sie sind beeinflusst von Depressionen, Ängsten, Antriebslosigkeit oder selbstzerstörerischem Verhalten. Vielleicht sind es genau diese Ängste die es den beiden unmöglich macht, auf die jeweils andere empathisch zu reagieren. Denn beide isolieren sich, können nicht aus ihren eigenen Zwängen ausbrechen. Die Reise der Freundin ist somit sowohl als ein Versuch der Flucht aus ihren realen und mentalen Zwängen, als auch als Schritt in die beklemmende Situation Nellys zu verstehen, in der sie sich kurz vor ihrem Tod, der im Buch auch als möglicher Freitod dargestellt wird, befand. Die Verschmelzung der beiden Frauen an Nellys letztem Ort führt gleichzeitig zu einer Art Auflösung der klar umrandeten Identität der Freundin. Als Nellys Freundin in die Karibik reist, zieht sie nicht nur in Nellys altes Zimmer, sie befreundet auch ihre Mitbewohner, besucht dieselben Orte, es ist fast so, als versuchte sie Nellys Leben zu leben. Immer tiefer dringt sie in Nellys Vergangenheit ein und konfrontiert sich mit ihren Emotionen. Sie imaginiert Ordnung und Klarheit im Ende Nellys, doch möglicherweise konstruiert sie damit nur ein gedankliches Gegenstück zu ihrem persönlichen Chaos. Janina Gallert
329 Seiten
22,00 €
Christoph: Hein Trutz. Roman
Suhrkamp
"Früher Morgen war's, als sie dich holten. / Die Kinder weinten vor Schreck. / Ich folgte Dir wie einem Toten. / Die Kerze zerfloss im Eck..." Anna Achmatowa
Im Prolog dieses Romans, in dem der Erzähler berichtet, wie er durch Zufall jenen Maykel Trutz traf, dessen Lebensbericht diesen Roman hat entstehen lassen, lesen wir folgenden Satz: "Ein gutes Gedächtnis war in der Geschichte der Menschheit stets eine tödliche Gefahr. Das Vergessen wird belohnt, nicht das Gedächtnis."
Das Zeitalter der Extreme nannte Eric Hobsbawm das 20.Jahrhundert, in dem mitten in Europa das NS- und das Sowjet-Regime vierzehn Millionen Menschen ermordeten.
Eine schier unerträgliche Zahl. Empathie entsteht nicht für Zahlen, Empathie entsteht für Menschen, für nacherzählte, ganz individuelle Biographien, an denen beispielhaft das Ineinander und Verzahnen von Geschichte und Einzelschicksal begreifbar, nachvollziehbar, ein wenig nacherlebbar und im besten Falle auch verstehbar wird.
In diesem Sinne ist Christoph Hein ein grandioser Jahrhundertroman gelungen, der all das schafft, was Geschichtsbüchern oft nicht gelingt.
Erzählt wird die Geschichte zweier Familien: einer Deutschen, beginnend in der NS Zeit der frühen 30er Jahre in Berlin und später im sowjetischen Exil, und einer Russischen im Moskau der 30er und in der Verbannung.
Maykel Trutz' Vater, Rainer Trutz, ist Journalist und Autor in Berlin, schreibt zwei schmale Romane, und gerät damit prompt auf die schwarzen Listen der Nazis.
Nur knapp entgehen er und seine Frau der Verhaftung. Mit Hilfe einer russischen Freundin gelangt die Flucht ins Sowjetische Exil. Dort kommt Maykel 1934 in Moskau zur Welt. Die Eltern arbeiten schwer, mit den Händen. Man arrangiert sich.
Sie lernen einen Professor von der Lomonossow Universität und dessen Familie kennen.
Prof. Gejm ist Sprachwissenschaftler mit Schwerpunkt Gedächtnisforschung. Er hat einen kleinen Sohn, Rem, der Maykels bester Freund wird. Sie spielen zusammen und werden dabei von Gejm liebevoll und nachhaltig gefördert: Gejm trainiert ihr Erinnerungsvermögen, was für beide lebenswegbildend wird.
Am Ende der 30er Jahre geraten alle in den "Reißwolf" des Stalinschen Säuberungs- und Umsiedlungswahns. Sie werden deportiert, kommen um, bis auf die Kinder.
Maykel wird nach dem Krieg nach Deutschland, in die sowjetische Zone, die DDR ausgewiesen. Er studiert, will Historiker werden, gibt diesen Wunsch auf, wird Archivar, ein lebendiges Gedächtnis. Auch hier herrschen wieder Staatswillkür, auch hier gerät er politisch unter Verdacht. Jahrzehnte später sehen Maykel und Rem sich wieder...
Christoph Hein ist mit diesem Buch ein großartiger Roman und eine Geschichtsstunde par excellence gelungen. In sachlich, nüchternem Ton erzählt, entwickelt dieser Text eine ungeheure dramatische Wucht und Spannung und lehrt uns nichts zu verschweigen, nichts zu vergessen, Archive anzulegen, und dafür zu arbeiten, dass sie zugänglich sind. sg
477 Seiten
25,00 €
Boris Sawinkow: Das schwarze Pferd
Kiepenheuer und Witsch
Boris Sawinkow war Anarchist, Terrorist, genialer Planer von Attentaten, er gehörte zu den russischen Sozialrevolutionären und war Schriftsteller. Seinen ersten Roman Das fahle Pferd (dt. 2015 bei Galiani) schrieb er l907/08 im Exil in Paris, wohin ihm nach einem misslungenen Attentat und Inhaftierung in der Festung Sewastopol zu fliehen gelungen war. Wichtigste Figur und Erzähler im Roman ist Georg, er bekennt sich zu Revolution und Terror, getötet werden muss nicht für persönliche Ziele, sondern weil man für ein neues Russland töten muss. Das 4. apokalyptische fahle Pferd mit seinem Reiter steht in der Offenbarung des Johannes für den Tod – möglicherweise ist Georg dieser Reiter.
Auch im 16 Jahre später, nach neuerlicher Emigration in Paris, geschriebenen Roman Das schwarze Pferd ist Georg Hauptperson und Erzähler. Der Titel bezieht sich auf das 3. apokalyptische Pferd, der Roman beginnt im Jahr 1917. Georg ist zunächst Oberst in der weißen Armee, dann kämpft er für die grünen Bauernsoldaten, dann als Großstadtrevolutionär in Moskau, immer gegen die Bolschewisten und ihren Herrschaftsanspruch und immer desillusionierter. In Tagesberichten und Reflexionen schreibt er vom Verhängnis eines Bürgerkriegs, in dem alle für Russland kämpfen und alle für Russland sterben. Was mit Terror im fahlen Pferd begann, wird für Georg zur Frage nach Wahrheit, wer hat Recht – alle? – warum töten wir und wird unsere Schuld durch den eigenen Tod aufgehoben?
Sawinkow erzählt hochkonzentriert, kühl und ruhig, immer wieder in einem eindringlichen Sprachrhythmus, der an biblische Weissagungen erinnert. Am Ende verlässt Georg Moskau. Noch einmal zitiert er aus der Offenbarung „Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd. Und der daraufsaß hatte eine Waage in seiner Hand.“ Bei Sawinkow erscheinen die Pferde in umgekehrter Reihenfolge, zuerst das 4. – der Tod – und dann das 3. – Krankheit und Not. Ein Bild der Hoffnung?
Das schwarze Pferd, entstanden aus Sawinkows eigenem Erleben, ist kein autobiographischer Roman, es ist wie Bulgakows Weiße Garde und Babels Reiterarmee eine eindrucksvolle, poetische Erzählung der russischen Revolutionszeit. rg
290 Seiten
23,00€
Jutta Voigt: Stierblut-Jahre. Die Boheme des Ostens
Aufbau Verlag
„Es war einmal ein Land..., in dem Filme, Opern und Tänze verboten wurden, weil sie ein paar alten Männern nicht gefielen. Ein Land, aus dem man nicht raus konnte ...“. Können Sie sich vorstellen, dass es in diesem Land ein Leben gab, das leicht war und bunt, verzweifelt und verspielt zugleich – das Leben der Boheme?“
Ja, das gab es tatsächlich in der DDR, eine lebendige Alternativ-Szene.
Die graue Düsternis notdürftig beleuchteter Straßen in heruntergekommenen Stadtquartieren und verfallende Gutshäuser in ländlichen Regionen boten Schutzräume für alternatives, selbstbestimmtes Leben und Schaffen in allen Sparten der Künste.
Nicht nur in der „Hauptstadt“, auch in Leipzig, Halle, Dresden, und in der DDR- Provinz.
Überlebenswichtig war ein Dauerarbeitsverhältnis, sei es als Friedhofsgärtner oder Toilettenaufsicht, oder die Erlaubnis des Finanzamtes, freiberuflich tätig zu sein. Andernfalls drohte die Staatsmacht mit dem Strafrecht: „asoziale Lebensweise“ wurde mit Knast zur „Arbeitserziehung“ bedacht, Minderjährige in den berüchtigten Jugendwerkhöfen drangsaliert.
Die Autorin Jutta Voigt, Ostberlinerin Jahrgang 1941, war seit ihrer Studentenzeit und später als Journalistin mittendrin dabei, beobachtete die Etablierten und die Westbesucher im Künstlerclub Die Möve, die hoffnungsvollen Jungtalente und die Möchtegern-Künstler, die Abgestürzten und die einfallsreichen Kreativen, die der repressiven Staatsmacht so manches Schnippchen schlugen.
Zu Lesungen und Gesprächen traf man sich in privaten Wohnungen und kleinen privaten Galerien. Gefeiert wurde oft und ausgelassen, der ungarische Rotwein Stierblut, das Kultgetränk der Alternativen, floss reichlich.
Anfangs, in den Gründerjahren der DDR, dominierte die Hoffnung auf eine gerechte und freie Gesellschaft, die anders sein sollte, als im kapitalistischen Westen.
Diese Hoffnungen der Intellektuellen und Künstler der DDR zerstoben spätestens 1976 mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns. Die Staatsmacht wollte Unterwerfung erzwingen.
Bespitzelung, Zersetzung der Szene durch Misstrauen, Belohnung bei Wohlverhalten, erzwungene Ausreise für die Widerständigen waren die perfiden Methoden.
Hierbleiben oder weggehen, war die meist gestellte Frage in der Künstlerszene in den 1980er Jahren.
„Was verboten ist, das macht uns gerade scharf.“ Dieses Biermann-Wort erklärt vielleicht, warum gerade im Gouvernanten-Staat DDR subversives Leben gedeihen musste. Jutta Voigt bietet - brilliant und unterhaltsam geschrieben - Einblicke in ein eher verborgenes Segment der DDR-Wirklichkeit. js
272 Seiten
19,95 €
Stephan Lohse: Ein fauler Gott
Suhrkamp Verlag
Westdeutschland, Anfang der 70er Jahre: Der elfjährige Benjamin wächst mit seinem jüngeren Bruder Jonas bei ihrer Mutter auf; die Eltern sind geschieden. Ben beschäftigen die typischen Alltagsangelegenheiten eines Jungen zwischen Kindheit und Frühpubertät: Schule, Autos, Karl May, die Hitparade. Doch dann stirbt Jonas und Ben muss sich an Veränderungen gewöhnen - seine Mutter weint nachts auf ihrer Heizdecke, und er tut sein Möglichstes, sie abzulenken. Aber auch sein Jungenleben geht weiter und nimmt Ben stark in Anspruch; er freundet sich mit seinem neuen Mitschüler an, lernt beim Nachbarn "Autofahren" und erhält seine erste Einladung zu einer Party mit Mädchen.
Bens jugendlich-naive Erzählerstimme, die nur gelegentlich von Schlaglichtern auf seine Mutter unterbrochen wird, nimmt den Leser vom ersten Augenblick an gefangen. Stephan Lohse erzählt mit großer Empathie und Zuneigung für seine Figuren und trotz der ernsten Thematik kommt der Roman nahezu leichtfüßig daher, besticht er doch nicht zuletzt durch seine anrührende Komik.
Das Buch handelt von Tod, Trauer und Schmerz, von Freundschaft, Trost und Liebe - kurz gesagt: vom Leben. Und wie auch sein (Schauspiel- und Autoren-)Kollege Joachim Meyerhoff besitzt Stephan Lohse die Fähigkeit, in einer eigenen Sprache, eigenen Bildern und aus einem ganz eigenen Blickwinkel heraus zu erzählen.
Es ist das gelungene Debüt eines Autors, den man im Auge behalten sollte. mf
336 Seiten
22,00€
Frühling 2017
Katja Lange-Müller: Drehtür
Asta Arnold war 22 Jahre als Krankenschwester im Dienst internationaler Hilfsorganisationen tätig, zuletzt in Nicaragua. Ein Leben lang sah sich berufen zu helfen, doch jetzt, mit 65, unterlaufen ihr Fehler, und sie ist nicht mehr erwünscht. Die Kollegen schenken ihr ein One-Way-Ticket nach Deutschland, für einen „Aus-Flug“, wie sie es mit perfidem Witz nennen. Nun steht Asta am Münchner Flughafen und raucht ohne Maß. Orientierungslos, was die Zukunft angeht, wird sie ergriffen von einem intensiven Erinnerungsstrom, ausgelöst durch vermeintlich bekannte Gesichter dies- und jenseits der Drehtür, die gleichsam als Scharnier ihrer Lebensstationen dient. Und wie Scheherazade erzählt, um ihr Leben zu retten, beginnt nun ein Rondo frei assoziierter Erinnerungen aus verschiedenen Zeiten, von verschiedenen Kontinenten, bei denen es um das Helfen geht und nicht selten um dessen Misslingen.
Anfangs aber bemerkt Asta, dass sie mit der deutschen Sprache „im Clinch“ steht, und so muss sie erst probieren, den inzwischen fremd klingenden deutschen Wörtern nachschmecken, ob sie eine Vertrautheit etwa in solchen wie Blitzgewitter und Muttersprache finden kann. Was ein Lebewesen ist, wissen alle. Aber ein Gesundheitswesen? „Helfen macht geil, machtgeil“, heißt es später. Und da ist er endlich wieder, der ganz besondere Katja-Lange-Müller-Sound, den wir vermisst haben sieben Jahre lang, seit dem großartigen Roman „Böse Schafe.“ Lakonisch, robust, sarkastisch, pointiert, unsentimental, solidarisch-zärtlich noch mit dem verwahrlosesten Freak. Doch noch hinter dem verschrobensten Kalauer verbirgt sich eine stille Weltweisheit, die sich, so will es scheinen, zunehmend in Weltskepsis wandelt.
„Ich habe viel über das Helfen nachgedacht als letzte Domäne des unreflektiert Guten“, so Katja Lange-Müller. „Gut ist ja nicht einfach gut. Das hatte ich schon bei meinem Roman „Böse Schafe“: die guten Guten, die bösen Bösen, die bösen Guten und die guten Bösen. Die guten Bösen sind wahrscheinlich die Variante, die die Menschheit am weitesten bringt...“ gw
224 Seiten
19,00€
Winter 2016
Francoise Frenkel: Nichts, um sein Haupt zu betten
Übersetzt von Elisabeth Edl, mit einem Vorwort von Patrick Modiano.
Hanser Verlag
Sie war eine Kollegin, diese Francoise Frenkel, eine ganz besonders mutige, intelligente und selbstbestimmte Person. Man müsste ihr so etwas wie ein kleines Buchhändlerinnendenkmal
setzen. 1889 kommt sie in Polen zur Welt, sie ist Jüdin, geht zum Studium nach Paris und kommt im Jahr 1921, drei Jahre nach dem großen Krieg, auf die unglaubliche Idee, in Berlin, Passauer Straße, eine französische Buchhandlung zu eröffnen. Man rät ihr ab, sie tut es dennoch. Es wird eine Erfolgsgeschichte. Tout Berlin trifft sich hier: Diplomaten, französische und deutsche Autoren, Intellektuelle, Leser, die das Französische lieben, wovon es immer schon in Berlin viele gab. Kurzum: Dieser Buchladen wird eine lebendige Berliner Institution, ein Ort des kulturellen Lebens und Austausches in einer schwierigen Zeit. Ab 1933 machen die deutschen Behörden diesem Laden und ihrer Besitzerin das Leben und Handeln mit französischen Büchern kompliziert und schwer. Madame Frenkel bleibt dennoch bis kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in der Stadt. Am 27. August 1939 verlässt sie Berlin. Sie schließt ihren geliebten Buchladen zu und geht. Für immer. Die französische Botschaft versucht die Bücher zu retten, aber irgendwann beschlagnahmen die Nazis alles. Man kennt diese Geschichten, und doch müssen sie immer wieder erzählt werden.
Zurück in Frankreich gelingt es ihr, sich mit Hilfe guter Menschen zu verstecken. Davon berichtet das Buch im überwiegenden Teil. Schließlich gelingt ihr die Flucht in die Schweiz. Francoise Frenkel überlebt den Krieg. Unmittelbar nach all diesem Erlebten, setzt sie sich hin und schreibt dieses Buch. Es erscheint 1945 in einem Schweizer Verlag und - ward vergessen. Eindrücklich, präzise, frisch und ohne Bitternis erzählt sie von all den kleinen Schritten, die notwendig waren, um untergetaucht im besetzten Frankreich zu überleben. Ohne fremde Hilfe unmöglich – ohne ständige Überwindung von extremster Angst und ohne Glück auch nicht. Beeindruckend und lehrreich ihre genaue Beschreibung von deutscher Besatzungsverwaltung und französischem Entgegenkommen, wenn es darum geht, politisch und rassisch Verfolgte auszuliefern. Aber eben noch beeindruckender die vielen Menschen, die sich dem zu widersetzen versuchen und es auch tun.
Man fand dieses Buch, auch das ein Wunder, auf einem Pariser Flohmarkt wieder.
Elisabeth Edl übersetzte es und Patrick Modiano, ein Spezialist derartiger Lebensgeschichten, hat ein einfühlsames Vorwort geschrieben, und Sie sollten es unbedingt lesen. Es ist etwas Besonderes mit diesem Buch. Eigenartig, dass man nie zuvor, auch wenn man schon fast ein ganzes Leben im Bücher-Berlin lebt, von der Existenz dieses Buchladens gehört hat. sg
288 Seiten
22,00€
Winter 2016
Hans Fallada: Kleiner Mann - was nun?
Mit einem Nachwort von Carsten Gansel
Aufbau Verlag
Die meisten von Ihnen werden dieses Buch schon einmal gelesen haben. Wenn nicht, nehmen Sie es sofort zur Hand und fangen Sie an. Wenn ja, lesen Sie es noch einmal.
Es sei hier zum Wiederlesen ausdrücklich empfohlen, zumal ein Viertel dieses Textes in früheren Ausgaben nicht enthalten war - ergo: alle lesen irgendwie zum ersten Mal dieses Buch.
Seit geraumer Zeit machen sich Verlage etwas zur Aufgabe, was nicht oft genug lobend erwähnt werden kann: Sie entdecken längst vergessene, verschollene, gekürzte Bücher neu und geben Sie erstmals in ihrer ganzen ursprünglichen Vollständigkeit heraus. Im Aufbau Verlag ist ein solches Arbeiten mit und an Texten berühmter Autoren schon lange ein fester Bestandteil der Programmgestaltung und wir sind dankbar, dass es solch ein Denken und Arbeiten in Verlagen gibt. So geschehen im Frühjahr 2011 mit Hans Falladas JEDER STIRBT FÜR SICH ALLEIN und nun mit des selbigen Autors Titel KLEINER MANN - WAS NUN? Im Jahre 1932 waren Ernst Rowohlt, der Verleger Falladas, der Autor selbst und das Lektorat nur an einem interessiert: Sie wollten das Buch zu einem Welterfolg machen, und deshalb "erschien es angeraten, mögliche Irritationen zu vermeiden und den Roman auf diese Weise einem breiten Lesepublikum anzupassen." Die Weltwirtschaftskrise hatte allen, Autor und Verlag, zugesetzt. Man brauchte dringend einen Erfolg; auch einen wirtschaftlichen: Man brauchte die "Pinke". Und so wurden in einer politisch extrem angespannten Situation politisch heikle Szenen, aber auch solche, die den Leser moralisch kompromittieren könnten, Szenen des Berliner Nachtlebens, gestrichen. Etwa ein Viertel des Romans fiel dem Rotstift zum Opfer. "Das Kalkül von Verlag, Autor und Zeitung (Es gab einen Vorabdruck in der Vossischen) ging auf: Die Leser waren begeistert. Es wurde ein Welterfolg. Und erst jetzt dürfen wir den ganzen Fallada lesen und sind erstaunt, berührt und beglückt, diese Geschichte in all ihrer Frische und Eindringlichkeit, ihrer Wärme, Bitternis, Wahrheit und Lebendigkeit erneut zu lesen und zu hören. Dieser Roman hat über die Jahre nichts an Aussagekraft, Wahrhaftigkeit und literarischer Kraft verloren. Das zeichnet große Literatur aus. Man wird ihn auch in hundert Jahren noch genauso frisch und begeistert lesen können. Wer das Ende der Weimarer Republik verstehen will, greife zu diesem Buch.
"Da steht Er, einer von Millionen, Johannes Pinneberg, kleiner Angestellter, ein Garnichts, aber ein Garnichts voll Sorgen und Wünschen, Mann seines "Lämmchen", Vater seines "Murkels", kämpft mit Berlin, Verwandten, Hochstaplern, Chefs, Kollegen, verkauft viel Anzüge, verkauft gar keine Anzüge, wird arbeitslos, bekommt Arbeit, wird wieder arbeitslos und verzweifelt doch nicht... Wehrlos gegen die Schläge, die auf ihn niederfallen, arm im blinkenden Wirbel der Großstadt, glückselig bei Weib und Kind, erfährt Pinneberg Freud und Leid wie der nackte Mensch der Urzeit, der nicht weiß, was morgen kommt." So formuliert in einer Anzeige im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel am 25. Mai 1932.
"Schreiben Sie, wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist" ermunterte Ernst Rowohlt seinen Autor. "Also nieder mit allen verdammten Buchgemeinschaften und Volksverbänden der Bücherfreunde, sämtlichen Illustrierten Zeitungen der Welt, sämtlichen jämmerlichen bürgerlichen Feuilletonredaktionen, sondern schreiben Sie um Gottes Willen so, wie es Ihnen um die Hand, resp. ums Maul oder ums Herz herum ist, ..." Das tat Fallada, gekürzt wurde danach. Der Sound dieses Buches ist unverwechselbar. Man muss es einfach lieben. Das Buch hat, dies soll nicht unerwähnt bleiben, einen hervorragenden, informativen Anhang von Carsten Gansel. sg
557 Seiten
22,95€
Winter 2016
Szczepan Twardoch: Drach
übersetzt von Olaf Kühl
Rowohlt Berlin
Drach ist ein Familienroman, es ist ein Roman Niederschlesiens und die Erde ist es, die die Geschichte der Familie Magnor erzählt. Sie weiß alles, bewahrt alles, vergisst nichts. Die Erde als Erzählerin ermöglicht eine Gleichzeitigkeit der Handlung über 100 Jahre hinweg, ein Erzählen, in dem alle Stränge in einem Geflecht miteinander verbunden sind. Trotz der zeitlichen Sprünge und der zahlreichen handelnden Personen und Nebenpersonen verliert der Leser in diesem kunstvoll komponierten Roman nicht den Zusammenhang. Wie ein Faden, der durch die Erde läuft, werden die Personen und Zeitebenen miteinander verwoben, vom Urgroßvater Josef Magnor bis zum Urenkel Nikodem. Josef Magnor ist der Stamm, von dem die vielen Erzählstränge abzweigen. In dieser Zeitspanne von 100 Jahren wird nicht nur die Familiengeschichte erzählt, sondern auch die Geschichte Schlesiens, der Kriege, Aufstände und Streiks in den Bergwerken, der Grenz- und Sprachverschiebungen, der Menschen, die heute wasserpolnisch oder schlesisch sprechen und fühlen und morgen deutsch oder polnisch. Wer bin ich, wo gehöre ich hin, wie bestimmt mich meine Herkunft, Fragen, die man sich selbst beim Lesen des Romans stellt. Olaf Kühl hat diesen Text mit all seinen sprachlichen Herausforderungen wunderbar übersetzt, ein "Lied von der (schlesischen) Erde", ein großartiges Buch. rg
412 Seiten
22,95€
Winter 2016
Thomas Melle: Die Welt im Rücken
Dies ist ein nachtschwarzes Buch voller Qual und Verzweiflung, Scham und Wut, eine Reise ins Herz der Finsternis. Und es ist eins der besten Bücher in dieser an guten Büchern nicht armen Saison. Nicht Roman, nicht Autobiographie, nicht (ausschließlich) Krankenbericht. Es ist ein Freischreiben.
Thomas Melle leidet seit 1999 an der Bipolaren Störung I, der schwersten Form manischer Depression. Das heißt (sehr verkürzt): In Schüben wechseln sich paranoide Allmachtsphantasien und tiefe Niedergeschlagenheit ab, die Klinikaufenthalte häufen sich, die Freunde bleiben fern, Räumungsklagen und Pfändungen folgen. Wie das im Einzelnen beschrieben wird, das ist schlicht atemberaubend, voll schonungsloser Drastik und vor allem von ungeheurer literarischer Kraft.
Zwischen den Schüben ist man sozusagen „zwischenzeitlich geheilt“; in diesen Phasen schrieb Melle zuletzt die beiden Romane „Sickster“ und „3000 Euro“.
Freischreiben: Schon in den Romanen teilen die Protagonisten das Basisschicksal des Autors, sind dessen „Wiedergänger“, von denen es sich zu trennen gilt. Das ist der Antrieb des Buches und bezeugt seine Dringlichkeit. „‘Ich‘ zu sagen ist unter den gegebenen Umständen gar nicht einfach, umso entschiedener tue ich es. Wenn ich nicht wirklich versuche, meine Geschichten einzusammeln, sie zurückzuholen, die Stimme in eigener Sache unverstellt zu erheben, bleibe ich, auch und gerade im Leben, ein Zombie, ein Wiedergänger meiner selbst, genau wie meine Figuren.“
Nach der Lektüre ist man erschöpft wie nach harter, aber sinnerfüllter Arbeit. Wie soll es weitergehen?
„Bisher war ich ein Schriftsteller des Unglücks. Meine Protagonisten fielen, erkrankten, brachten sich um. Das soll sich nun ändern. Ich möchte herausfinden, wie es wäre, ein Schriftsteller des Glücks zu sein.“ gw
352 Seiten
19,95€
Herbst 2016
Mathias Enard: Kompass
Hanser Berlin
Was ist der Andere? Was ist der Andere in uns selbst, fragt der Protagonist in Mathias Enards Roman "Kompass" und führt damit leitmotivisch in das Zentrum dieses außergewöhnlichen, mit dem Prix Goncourt gekrönten Buchs. Erzählt wird der Roman aus der Perspektive des kranken Wiener Musikwissenschaftlers Franz Ritter, der während einer schlaflosen Nacht „halb geträumte“ Erinnerungen aufsteigen lässt, in denen sich die Geschichte der europäischen Faszination für die „Andersheit“, den Orient, widerspiegelt. Franz Ritters Reflexionen entfalten von der österreichischen Hauptstadt, der porta orientis, über Istanbul und Teheran bis nach Palmyra ein kulturelles Beziehungsgeflecht; ein weites geisteswissenschaftliches Panorama, das sich nur durch einen seit vielen Jahrhunderten gesuchten Austausch zwischen Orient und Okzident denken lässt. Neben Pilgern, Forschern und Wissenschaftlern verknüpfen in Ritters Selbstgesprächen Dichter (Goethe, Hofmannsthal, Hugo, Balzac) und Komponisten ( u.a. Mozart, Liszt, Hindemith) reale Begegnungen und kreative Einfälle zu Narrativen, die den Roman zu einem vergnüglichen, aber durchaus anspruchsvollen und gelehrten Orientexkurs verdichten. Zu Ritters glücklichen Erinnerungen gehören auch die Begegnungen mit der Literaturwissenschaftlerin Sarah, die aber sein Begehren nicht erwidert. Seine Sehnsucht nach ihr ist wie das Echo in einem Sehnsuchtsraum, in dem unser Blick auf das Morgenland noch voller Idylle und unbeschädigt von Terror und Religionskrieg war. Mathias Enard widmet Kompass den Syrern. Ihr Schicksal steht heute exemplarisch für unser gewandeltes Bild vom Orient: Ihre Flucht nach Europa ist zu unserer Furcht vor dem Osten geworden. be
416 Seiten
25,00€
Herbst 2016
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