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Guntram Vesper: Frohburg
1957 – der Autor war 16 Jahre alt - flüchtete die Familie in den Westen. Besuche, meist in „Familienangelegenheiten“, vor und nach dem Ende der DDR, führten ihn zurück in die Landschaften und Orte seiner Kindheit und lösten ein Erinnerungs-Feuerwerk an persönliche und politische Ereignisse sowie deren handelnde Personen aus. Das Buch ist lang, aber nie langatmig. Zurecht hat der Autor für sein Werk der Leipziger Buchpreis 2016 erhalten. Es steht in der literarischen Traditon der Danziger Trilogie von Günter Grass und der Jahrestage von Uwe Johnson. Ein geniales Zeitpanorama. js
1002 Seiten
34,00 €
Herbst 2016
Jerome Charyn: Blue Eyes
Diaphanes Verlag
In seiner Heimat äußern sich Kollegen wie Michael Chabon und Don DeLillo bewundernd und voller Hochachtung über ihn, in Frankreich wurde er zum Ritter des Ordens der Künste und der Literatur ernannt. Hierzulande ist er immer noch ein Geheimtip: Jerome Charyn, 1937 als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer in New York geboren, gilt mit seinem vielfältigen Werk als Chronist der Stadt, als „Homer der Bronx“, als „Balzac Manhattans.“ Er hat zwei Biographien verfasst: eine über Isaak Babel, die andere über Quentin Tarantino, und hiermit werden schon die Pole deutlich, zwischen denen sich Stoff und Stil seiner Romane bewegen.
Im Zentrum seines Werks steht die 1974 begonnene Saga um den enigmatischen Anti-Helden Isaac Sidel, dessen Weg vom Präsidenten der New Yorker Polizei über das Bürgermeisteramt bis ins Weiße Haus führt. Sidel ist die Inkarnation aller Detektive und Verbrecher der Stadt, er mordet, er rettet Menschenleben, er richtet, er verzeiht: eine mythisch anmutende Figur mit exzellenten Beziehungen zu allen Zweigen der Mafia. Diese Bücher der Gattung Kriminalroman zuzuschlagen wäre ungenau; vielmehr wird eine Archäologie des Verbrechens betrieben, hier werden Kriege geführt wie in antiken Epen, simple Fälle zu lösen gibt es hier nicht. Die Sprache ist schnörkellos, erzählt wird rasant, halluzinatorisch, sehr noir.
In Deutschland gab es mehrere Versuche von verschiedenen Verlagen, sich dem Werk Charyns zu nähern. Jetzt liegt mit „Blue Eyes“ der erste der auf zwölf Bände angelegten vollständigen Neuausgabe der Sidel-Romane vor, in vortrefflicher Ausstattung, silbern matt-glänzend. Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann. gw
304 Seiten
14,95 €
Sommer 2016
Michail Prischwin: Der irdische Kelch
Guggolz Verlag
„Und was ist Russland? Am einen Ende geht die Sonne auf, am anderen unter, und auf einem so großen Territorium sagen alle, dass es zu wenig Land gibt und die Leute hätten nichts anzuziehen, gibt es auf Erden ein närrischeres Land als Russland?“
1922 schrieb Michail Prischwin mit dem „Irdischen Kelch“ ein noch heute irritierend modern wirkendes Prosastück nieder, das die brutale Zwangskollektivierung der ländlichen Güter durch die Bolschewiki 1919 zum Thema hat. Schauplatz ist ein abgelegen im Sumpf liegendes Empireschloss, das infolge der Umnutzung durch die neuen kommunistischen Machthaber binnen kurzer Zeit katastrophal heruntergekommen ist. Der Lehrer Alpatow, ein alter ego Prischwins, soll hier ein Museum des Gutslebens einrichten. Inmitten eines Ensembles skurriler Gestalten, Muschiks, Apparatschiks, Moosbeerweibern und Popen wird er gewahr, wie nicht nur das gesellschaftliche Leben aus den Fugen gerät, sondern wie auch die Natur sich nach den gewalttätigen Eingriffen langsam vom Menschen verabschiedet.
Prischwin bangte um die Veröffentlichung seines Buches und schrieb offensiv einen Brief an Trotzki. Dieser attestierte ihm zwar künstlerisches Talent, im Übrigen sei die Erzählung jedoch durch und durch konterrevolutionär. Erst 2004 konnte in Russland eine vollständige, unzensierte Ausgabe erscheinen.
Wir haben jetzt das Glück, dieses literarische Kleinod in einer bibliophil gestalteten Ausgabe in deutscher Übersetzung lesen zu dürfen. Geborgen hat diesen Schatz der auf osteuropäische und nordische Literatur spezialisierte Guggolz Verlag, übersetzt und mit unerlässlichen Anmerkungen versehen wurde das Buch von Eveline Passet, und Ilma Rakusa bringt in ihrem erhellenden Nachwort das Phänomen dieser faszinierenden Prosa auf den Punkt:
„Mitnichten eine flüssige Lektüre. Prischwins dokumentarisch abgefederte Erzählung ist kantig und bizarr, berührend und komisch, bitter und schön, schockierend und phantastisch, sie lebt von prägnanten Details, die dem Text Glaubwürdigkeit und Würze verleihen – und jeden Ideologen das Fürchten lehren.“ gw
171 Seiten
20€
Frühjahr 2016
Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21.Jahrhunderts.
Als Theaterautor begibt sich Roland Schimmelpfennig nicht selten auf die Spur von dysfunktionalen (Paar,-)Beziehungen. Dahinter scheint oft die Absicht auf, ein vermeintliches Idyll zu entlarven und innerhalb komplexer Lebenszusammenhänge Lebenslügen zu enttarnen. Die Mittel der Collagetechnik und surreale Elemente werden zu Trägern einer Erzählform, die dem Moralisten Schimmelpfennig einen beständigen Fingerzeig auf unsere disparaten Zustände und Widersprüchlichkeiten ermöglicht. Auch hier, in seinem ersten, geglückten Roman, werden unterschiedliche Lebensperspektiven verschiedener Paare angeschnitten, deren Wege sich durch ein Ereignis plötzlich kreuzen: ein Wolf ist in der Stadt. Ob es den Wolf tatsächlich gibt, bleibt offen, vielleicht ist er auch nur „ein dunkler Fleck im Schnee“. Die mögliche Konfrontation mit der animalischen Seite der Welt verunsichert und setzt Ängste, aber auch Sehnsüchte nach menschlicher Wärme und Zusammengehörigkeit frei. Schimmelpfennig erweist sich als ein Meister der knappen, lakonischen Sprache. Sie erforscht atmosphärisch genau die filigranen, seelischen Erschütterungen. Sie belauert und umkreist, bis schließlich mit den Figuren auch der Leser ahnt, dass, seit der Wolf aufgetaucht ist, nichts mehr ist, wie es vorher war. be
256 Seiten
19.99€
Frühjahr 2016
Gaziel: Nach Solniki und Serbien. Eine Reise in den Ersten Weltkrieg
Berenberg
„Befördert von unfähigen Politikern, beleidigten Monarchen und nationalistisch verbohrten Militärs“ tritt der europäische Kontinent 1914 in den Ersten Weltkrieg ein.
Der Balkan wird unter Einfluss der europäischen Großmächte zum Kriegsschauplatz und tausende Menschen flüchten im Jahr 1915 vor den über Mazedonien und Serbien anrückenden bulgarischen und deutschen Truppen, die gegen die französisch-britische Allianz in Griechenland vorrücken.
Ein junger Journalist aus Barcelona, Gaziel, eigentlich Augustì Calvet, geboren 1887, aus wohlhabendem Haus mit gutbürgerlichem Hintergrund, ist abenteuerlustig, von der Antike begeistert und mutig genug den nahenden Frontlinien entgegen zu reisen.
Mit dem Schiff Adriatikos über Italien nach Griechenland, später in Begleitung eines dolmetschenden Freundes mit einem alten klapprigen Wagen geht es im November 1915 über das von Engländern und Franzosen besetzte Saloniki, weiter durch Kälte und schneebedeckte Berglandschaften nach Monastir, wo er auf die von deutschen und bulgarischen Truppen vertriebenen Flüchtlingsströme trifft: „Während wir uns Monastir nähern, durch die anrollenden Wellen von Flüchtlingen hindurch, ist mir, als erlebte ich eine der tausendjährigen Szenen der Pest, des Elends und des Schreckens, die das moderne Bewusstsein noch bis vor zwei Jahren für immer ins barbarische Dunkel des Mittelalters verbannt zu haben schien“.
Gaziels Blick ist nicht immer frei von Stereotypen und antisemitischen Vorurteilen seiner Zeit, doch stets ist er politisch hellwach, teilnehmend und offen für die Nöte und das unbeschreibliche Leid der vertriebenen Menschen, welcher Religion oder Nationalität auch immer. Entschieden wendet er sich gegen Irrsinn und Absurdität eines von Flüchtlingen unverschuldet hinzunehmenden Elends.
Ein ungemein dichtes, ergreifend unmittelbares Zeugnis, das die beeindruckenden Landschaften Griechenlands und des Balkans, die kulturelle und menschliche Vielfalt dieser Regionen, die verfehlte Politik und die erschütternden Schicksale dieser Zeit erfasst. Gaziels Bericht ist erschreckend aktuell. mc
240 Seiten
25.00 €
Frühjahr 2016
Antonia Baum: Tony Soprano stirbt nicht
Hoffmann und Campe
Antonia Baums letzter Roman hieß "Ich wuchs auf einem Schrotthaufen auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren." Er handelt von drei Kindern, die, so die Autorin, „auf ihren Vater warten, ihr ganzes Leben lang, und die ihn, während des Wartens, am Leben erhalten, indem sie sich Geschichten über ihn erzählen, indem sie seine Wörter benutzen und seine Scherze machen.“ Kurz vor Erscheinen des Romans erfährt Antonia Baum, dass ihr Vater nach einem schweren Motorradunfall auf der Intensivstation liegt.
In den Wochen und Monaten danach entstanden die vorliegenden zutiefst skrupulösen Aufzeichnungen. Ihren Titel verdanken sie einer Folge der legendären Mafia-Fernsehserie "Die Sopranos", in der Tony Soprano angeschossen wird und, im Krankenhaus bewacht von seiner bangenden Familie, mit dem Tod ringt. Natürlich überlebt Tony Soprano. Einige Jahre später aber stirbt überraschend James Gandolfini, der herausragende Darsteller des Tony Soprano, an einem Herzinfarkt.
Das Buch ist das bewegende Zeugnis einer tiefen Verunsicherung, die für Antonia Baum nicht anders als schreibend zu bewältigen ist. „Warum schreibe ich? Weil ich muss, weil ich nicht allein sein kann, weil ich Angst habe, weil ich herausfinden will, was passiert ist und was ich darüber denke; weil ich etwas gegen den Tod tun will.“ Vor allem geht es um den Einbruch der Realität in die Kunst, um autobiographisches Schreiben, mithin um Verantwortung und Schuld: Welche Zusammenhänge gibt es zwischen dem Roman und den realen Vorgängen, die letztlich zum Unfall des Vaters geführt haben? Die Autorin zitiert die von ihr verehrte Joan Didion: „Schriftsteller liefern immer jemanden ans Messer.“ Aber auch: „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.“ Und so stehen am Ende des Buches drei verstörende Geschichten, „Möglichkeiten“ nennt sie Antonia Baum. Sie stehen für sich, sie heilen nicht und haben auch keinen Anteil daran, dass das Buch verhalten hoffnungsvoll endet. Jedoch: „Ich wusste, dass ich das Leben nicht lesen kann wie einen Roman, in dem Zeichen versteckt sind, und ich wusste, dass Drehbücher und Geschichten keine Programme sind für das, was vor einem liegt... Aber ich weiß nicht, was ich ohne diese Geschichten gemacht hätte. Und ich weiß auch nicht, was ich ohne das Schreiben gemacht hätte.“ gw
150 Seiten
25,00 €
Frühjahr 2016
Friedrich Christian Delius: Die Liebesgeschichtenerzählerin
Rowohlt Berlin
„Das Vergangene,“ schreibt Harry Mulisch, „ist ebenso unsicher wie die Zukunft. In der Zukunft kann (fast) alles noch geschehen – doch auch in der Vergangenheit kann fast alles geschehen sein.“
Marie von Schabow, geboren 1920, verheiratet seit 1941 mit Reinhard von Mollwitz, vierfache Mutter, erfüllt sich kurz vor ihrem 50.Geburtstag den Wunsch, endlich das Buch ihrer Familiengeschichte zu beginnen: drei Liebesgeschichten, drei Lebensentwürfe in drei Kriegen.
Anfang 1970 begleiten wir sie auf einer Bahnreise nach Holland, wo sie in den königlichen Archiven Dokumente über ihre während der napoleonischen Kriege illegitim gezeugte Ururgroßmutter Minna aufzufinden hofft. Ihre Eindrücke auf der Reise, die Gedanken über ihr eigenes Erleben und das ihrer Eltern und der Großeltern in den Kriegen und Nachkriegszeiten des
20. Jahrhunderts ergeben das Gerüst für das geplante Buch. Der Leser wird hineingezogen wie in einen Film, dessen einzelne Schnitte nach und nach die Lebenswirklichkeit der Menschen abbilden, die in zusammenbrechenden Ordnungen aus ihren Lebensbahnen geworfen werden, Verlust und Tod, Not und Vertreibung erleiden müssen.
Es ist ein verständnisvolles, liebevolles Erinnern mit großer Empathie, in einer unaufgeregten, nachdenklichen Sprache geschrieben. Jeder Gedanken-Absatz endet nicht mit einem Punkt: So war es! Er endet mit einem Gedankenstrich: So könnte es gewesen sein - so könnten es unsere Vorfahren empfunden haben.
Danke, lieber Büchner-Preisträger, für dieses Meisterwerk. js
208 Seiten
18,95€
Frühjahr 2016
Ferdinand Hardekopf Briefe aus Berlin. Feuilletons 1899 - 1902
Nimbus
"Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen." Das gilt für viele vergessene Autoren des 20. Jahrhunderts: Auch und ganz besonders für Ferdinand Hardekopf.
Allenfalls dem ein oder anderen als expressionistischer Lyriker oder/und als profunder Übersetzer französischer Literatur bekannt, war er weit mehr als das: nämlich einer der geschliffensten Feuilletonisten, den die Hauptstadt je, neben Alfred Kerr natürlich, gehabt hat.
1876 in Varel (Friesland) geboren, kam er 1899 nach Berlin und wurde Stenograf im Deutschen Reichstag. "Gelegentlich besuchte er auch die Universität, doch die Berliner Boheme zog ihn weitaus mehr an." " wollte er sein... nicht Hüter der hohen Dichtkunst", sondern einer, der über die Gegenwart und das flirrende Leben der Straße und über die Vergnügungen in den Theatern, Varietés, Cafés und Unterhaltungsbuden schrieb. 1899 bekam er einen Auftrag der Eisenacher Tagespost und die Berichte aus Berlin, ach was sage ich, Berichte, das sind kleine, pointiert geschliffene feuilletonistische Kunstwerke, in und für die thüringische Provinz fanden über vier Jahre lang glückliche Leser. Und immer ist es das Kulturleben, "die Synthese von hoher Bildung und niedrigem Genuss des Moments", die ihn zu wahrhaft brillanten, wunderbar ironischen und stilsicheren Texten anspornt. Über den Kaiser und den Adel berichtet er nicht. Das hat ihn nicht interessiert. Ibsen, Hauptmann, Frank Wedekind, die Kunstsalons und die Secession, das sind seine Themen: der nervöse Umbau Berlins zu einer Weltmetropole ist in vollem Gang. Und Hardekopf ist mit Stil, Freundlichkeit, Witz, Ironie und Neugier ihr perfekter Chronist.
Hardekopf hasste den Krieg und so ging er 1916 in die Schweiz ins Exil. Er kam noch einmal zurück nach Berlin, verließ es aber 1922 endgültig, für immer ein Staatenloser. Später in Frankreich hatte er Glück und wurde Dank einer Intervention André Gides wieder aus dem Internierungslager entlassen. Nach dem Krieg lebte und übersetzte er wieder in der Schweiz, wollte lieber staatenlos sein, als einen Deutschen Pass besitzen. Er war ein Vermittler der französischen Literatur, die er so geliebt und bis zu seinem Lebensende wie ein Besessener übersetzt hat.
"Nie gelingt das Dasein richtig, nur der Dicht-Extrakt bleibt wichtig." F.H.
Bernhard Echte, Verleger und Robert Walser Experte, hat diesen wunderbaren Band in seinem Nimbus Verlag, Halbleinen und Lesebändchen, wie es sich gehört.
"Unbegrenzt haltbar" sg
224 Seiten
28,00€
Frühjahr 2016
Etgar Keret: Die sieben guten Jahre. Mein Leben als Vater und Sohn
Übersetzung: Daniel Kehlmann
Fischer Verlag
Etgar Keret, Jahrgang 1967, zählt zu den spannendsten und begabtesten jüngeren Autoren Israels. Er schreibt Erzählungen, Drehbücher, Graphic Novels und lebt mit Frau und Kind in Tel Aviv. Etgar Keret hat eine ganz eigene Stimme: schnell, mitfühlend, manchmal überspannt, voller Humor, bizarr - er verzichtet darauf zu moralisieren und weigert sich, alles zu politisieren. Der Mensch hat, was immer geschieht, sein ganz persönliches, einmaliges und nicht austauschbares, individuelles Leben.
Wir haben es hier nicht mit Erzählungen zu tun, sondern mit einem sehr persönlichen, intimen Journal. Sieben "glückliche" Jahre seines Lebens. Es beginnt mit der Geburt seines Sohnes während eines Raketenangriffs, alle Ärzte sind unterwegs, um Verletzten zu helfen, das Ungeborene hat instinktiv Geduld auf die Welt zu kommen, und endet mit dem Tod seines Vaters, eines Holocaust-Überlebenden. Dazwischen: ein Leben als Vater, Sohn, Mann und Bruder, viel Alltag in Israel: verrückt, gefährlich, oft surreal und ja, auch urkomisch.
Kann ein Mensch sieben gute Jahre haben in einem Land, das sich in ständiger Angst und seit ewigen Zeiten im Krieg befindet? Gut, ja, was ist ein gutes Leben? An einer Stelle ist die kleine Familie unterwegs und es kommt urplötzlich ein Raketenangriff. Sie verlassen das Auto, legen sich in den Straßengraben und spielen Pastrami-Sandwich, sprich: Butterbrot: Die Eltern sind das Brot (oben und unten) und in der Mitte das Kind, dass die Wurst spielen muss. Wie schütze ich mein Kind? Dieses Buch erscheint nicht auf hebräisch, Etgar Keret wollte es nicht. Es sei zu privat. Die deutschen Leser dürfen es lesen und sollten es unbedingt tun! Überwältigend und bewegend! sg
224 Seiten
19,99€
Frühjahr 2016
Christoph Hein: Glückskind mit Vater
Suhrkamp
Kriegsende 1945 in einer ostdeutschen Kleinstadt – Konstantin, am 14. Mai geboren und „Held“ dieses Romans, ist für seine Mutter ihr „Glückskind“: Zwar bewahrt die Schwangerschaft sie nicht davor, ihre Villa verlassen zu müssen, aber vermutlich vor Schlimmerem.
Erst mit elf Jahren erfährt Konstantin die Geschichte seiner Familie, bis dahin hatte die Mutter geschwiegen: über den Namenswechsel, über die gesellschaftliche Stellung des Vaters in der Stadt, wo er als Fabrikbesitzer bis Kriegsende der wichtigste Arbeitgeber war, über seine Partei – und SS-Mitgliedschaft, und seine Hinrichtung in den letzten Wochen des Krieges.
Noch als Toter herrscht der Vater über die Stadt, von den einen gehasst, den anderen bewundert. Für Konstantin wird er zum Phantom. Sein Leben lang wird er der Sohn von Gerhard Müller bleiben und darunter leiden.
Mit dieser Lebensgeschichte erzählt Christoph Hein von über 60 Jahren deutscher Geschichte: von Lüge und Verdrängung in beiden deutschen Staaten, von Menschen, die in jedem System Sieger bleiben und von jenen wie Konstantin, für die die Vergangenheit immer Gegenwart bleibt. rg
527 Seiten
22,95€
Frühjahr 2016
JOHN DOS PASSOS: MANHATTAN TRANSFER
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Rowohlt
1925 erschien mit Manhattan Transfer einer der großen Romane der amerikanischen Moderne: fragmentarischer Querschnitt durch die New Yorker Gesellschaft, dokumentarische Filmcollage und sozialkritische Fiktion zugleich. In einer Vielzahl von Figuren öffnet sich vor dem Leser das Panorama der Stadt. Den meisten der mehr als hundert Personen begegnet man nur einmal, wie beiläufig und doch bedeutsam. Nur einige Charaktere halten den Roman zusammen.
Der Blick des Autors fixiert Augenblicke im Großstadtdschungel, seine rhythmische Prosa folgt dem Pulsieren der Metropole. Sie ist der Protagonist. Gefräßig droht sie alle anderen Figuren zu verschlingen. Die radikale Modernität und stilistische Brillanz dieses Werkes kann nun in der neuen Übersetzung von Dirk van Gunsteren wiederentdeckt werden. sd
592 Seiten
24.95 €
Frühjahr 2016
Henning Mankell: Treibsand
Zsolnay
Mankell hat Krebs. Den existenziellen Schock dieser Diagnose kennen viele, andere können ihn sich vorstellen. Man versteht, dass er bei manchem zum – durchaus nachahmenswerten – Anlass wird, sich den grundlegenden Fragen des Lebens zuzuwenden, sei es in Verzweiflung oder vielleicht mit einer Art rücksichtsloser Abenteuerlust. Für Mankell wird der Schock zum Impuls für eine Zivilisationskritik, in welcher er sich und dem Leser bedeutende Hinterlassenschaften der Menschheit, bemerkenswerte historische Ereignisse, Kunstwerke und persönliche, prägende Erlebnisse einfühlsam vergegenwärtigt, und daran die Fragen nach Vergänglichkeit, Erinnern und Vergessen erörtert. Seine Kritik an unserer Zivilisation speist sich aus der Frage, was unsere heutige den zukünftigen Generationen hinterlassen wird, was man von uns vergessen, was erinnern wird.
Treibsand ist kein Buch, das dem Leser detailliert die Leiden von Krebserkrankung und Chemotherapie vorführt – obwohl es dem Thema nicht ausweicht. Der Titel ist ja nicht ohne Grund gewählt, denn wie in Treibsand fühlt sich der Autor nach der Diagnose versinken. Nein, kein Krebsbuch, vielmehr ein ernstes und sehr inspirierendes Nachdenken über das, was wir Menschen sind. An einer Stelle meint Mankell, das Leben sei eine Tragödie. Die tröstlichen Illusionen der Religion lehnt er für sich ab, und verliert dennoch nicht einen gewissen Optimismus.
Ich habe mich jedes mal beim Aufschlagen des Buches auf dieses ernste und anregende Zwiegespräch mit dem Autor gefreut – und wurde niemals enttäuscht. kp
384 Seiten
24,90 €
Herbst 2015
Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen
Knaus
Richard, emeritierter Professor für Altphilologie, hat „jetzt einfach nur Zeit“: Richard muss jetzt nicht mehr frühmorgens pünktlich aufstehen. „Vielleicht liegen noch viele Jahre vor ihm, vielleicht nur noch ein paar... Die Zeit ist jetzt eine ganz andere Art von Zeit. Auf einmal.“
Richard schaut alles in allem auf eine erfüllte Lebenszeit zurück. Gut, es gab Brüche, wie in jedem Leben, seine Frau ist früh verstorben, seine Geliebte hat ihn betrogen. „Nun aber quält ihn nicht die Zeit, die mit einer unnützen Liebe ausgefüllt ist, sondern die Zeit an sich.“
Zeit haben auch andere, unfreiwillig viel Zeit: die Flüchtlinge vor dem Roten Rathaus in Berlin. Und außer dieser Zeit haben sie nichts mehr. „We become visible“ steht auf ihren handgeschriebenen Schildern und so kommt es, dass Richard dem Aufruf in der Zeitung „Der Berliner Senat lädt Anwohner und Flüchtlinge zur Beratung der Lage in die Aula der besetzten Kreuzberger Schule ein“ folgt. Richard macht die „Sache mit den Flüchtlingen“ zu einer Art persönlichem Projekt. Und zu einem richtigen Projekt gehört eine solide Kenntnis der Dinge, um die es geht, und eine präzise und gute Vorbereitung.
Es ist ihm wichtig, die richtigen Fragen zu stellen: „Und die richtigen Fragen sind nicht unbedingt die Fragen, die man ausspricht...Um den Übergang von einem ausgefüllten und überschaubaren Alltag in den nach allen Seiten offenen, gleichsam zügigen Alltag eines Flüchtlingslebens zu erkunden, muss er wissen, was am Anfang war, was in der Mitte – und was jetzt ist.“
„Wer sind diese Menschen überhaupt? Warum können Sie nicht dort sein, wo sie eigentlich sein wollen – in ihrer Heimat? Und wer sind wir, dass wir sagen dürfen, es sind zu viele?“
Jenny Erpenbecks Romane haben immer mit den Fragen über Herkunft, Entwurzelung, Identität und Flucht zu tun. In diesem Buch nun widmet sie sich dem wohl wichtigsten politischen Thema unserer jetzigen und zukünftigen Zeit. Und wie sie das macht verdient allergrößte Bewunderung und Respekt. Nichts entgleitet ihr in diesem Buch: Es gibt keine unreflektierten Sätze, keine Klischees, keine Verallgemeinerungen, keinen moralischen Zeigefinger, keine Scheinheiligkeit, keine einfachen Wahrheiten und keine billigen Lösungen. Was es allerdings gibt, und dafür verehre ich diese Autorin, ist ein so überwältigend kluger, auch aufklärerischer und überzeugender Versuch, den Horizont unseres In-der-Welt-Seins zu öffnen, ohne immer schon Antworten auf Fragen parat zu haben, die wir uns nicht zu stellen genötigt sehen, aus welchen Gründen auch immer. Richard jedenfalls stellt die richtigen Fragen. Sie verändern sein Leben und Denken und Handeln. Ohne Enttäuschung geht das nicht – aber ohne Engagement eben auch nicht. Nein, es geht hier nicht darum, die ganze Welt zu retten. Eher schon um die einfachste und schwierigste aller Fragen: Wer will ich in diesem Leben sein?
Dies ist ein Roman, den ich jedem dringend zu lesen empfehle. Sie kommen da anders heraus, als Sie hinein gegangen sind. Und was will man mehr von einem Roman! Ein echtes Bildungserlebnis! sg
351 Seiten
19,99€
Herbst 2015
Charles Haldeman Der Sonnenwächter
Metrolit
Es ist eine späte Entdeckung: mehr als 50 Jahre nach seinem Erscheinen ist dieses Buch, das über weite Strecken in Deutschland spielt und deutsche Geschichte verhandelt, auch in deutscher Sprache zu lesen. Charles Haldeman, 1931 in South Carolina als Sohn eines deutschen Emigranten und einer Amerikanerin geboren, verarbeitet in seinem Debütroman eigene Lebensstationen, vor allem in dessen zweitem Teil, wo er sein Alter Ego Stefan Brüggemann im Heidelberg der fünfziger Jahre studieren lässt. Dieser hat hier bereits eine schmerzvolle Odyssee hinter sich: dunkelhäutig, da Sohn eines Roma-Vaters, entkommt er dem Tod in Auschwitz nur durch Zufall, folgt einem G.I. in die Südstaaten der USA und kehrt – nach dessen Tod – über Paris zurück nach Deutschland. In der Schilderung dieser Nachkriegsgesellschaft, der akademischen Bohème, dem Gemisch aus Kriegsheimkehrern, ehemaligen Kollaborateuren und Mitläufern, entwickelt der Roman eine ungeheure Spannung und Dichte. Vollends zum Schlüsselroman wird er, als Stefan auf die Dichterwitwe Regina Speer trifft. In Paul Speer nämlich ist kaum verschlüsselt der Lyriker Rainer Maria Gerhardt erkennbar, ein genialischer Wegbereiter der literarischen Nachkriegsmoderne und früher Vermittler zeitgenössischer amerikanischer Lyrik, der sich mit 27 Jahren das Leben nahm. Seiner damaligen Frau Renate ist Der Sonnenwächter gewidmet.
Haldemans Roman, sprachmächtig, komplex gefügt, verstörend, rätselhaft oft, doch nie verrätselt, ist selbst ein atemberaubendes Zeugnis der Moderne, auch heute noch, mehr als 50 Jahre nach seinem Erscheinen.
335 Seiten
25,00€
Herbst 2015
Michail Ossorgin: Eine Strasse in Moskau
Die Andere Bibliothek
Michail Ossorgin wurde 1878 in Perm in eine Adelsfamilie hineingeboren, studierte Jura, beteiligte sich schon 1905 an den revolutionären Ausschreitungen, wurde verhaftet, konnte ins Ausland fliehen, lebte bis zu seiner Rückkehr 1917 in Italien, wo er als Journalist liberaler russischer Zeitungen arbeitete. Er war von der Notwendigkeit der Revolution 1917 zunächst überzeugt und bald danach über die vollkommene Abkehr von der Einsetzung bürgerlicher Freiheiten bitter enttäuscht. Als Konterrevolutionär und „bürgerlicher Volksverderber“ wurde er 1922 mit 223 anderen Intellektuellen auf persönlichen Befehl Lenins mit einem der sogenannten „Philosophenschiffe“ außer Landes gebracht: Ausweisung auf Lebenszeit.
„Wir haben diese Leute ausgewiesen, weil es keinen Grund gab, sie zu erschießen, sie zu ertragen aber, war unmöglich“, kommentierte Trotzki.
Ossorgin ging zunächst nach Berlin, später nach Paris. Das Leben in der Emigration war hart. Er war ein „Zeitungsarbeiter“ und schlug sich durch. 1928 erschien in Paris in einem Emigrantenverlag „Eine Straße in Moskau“, 1929 eine deutsche Übersetzung unter dem Titel „Der Wolf kreist. Ein Roman aus Moskau“. Ossorgin starb als staatenloser Flüchtling 1942 in Frankreich.
Der Roman beginnt im Frühjahr 1917 und endet in Erwartung des Frühlings im Winter 1920. Das historische Geschehen jener Zeit, Krieg und Revolution wird aus wechselnden Perspektiven erzählt. Im Mittelpunkt aber stehen ein Haus in einer berühmten Moskauer Straße, bevorzugter Wohnort der russischen Intelligenzija, und dessen Bewohner, die Familie und der Freundeskreis eines Professors für Ornithologie.
Über sie alle, die in diesem Haus ein und aus gehen als Vertreter der bürgerlichen Welt und Werte, fegen die Erschütterungen der Zeit hinweg, zunächst der Erste Weltkrieg und bald danach die ganz „große Katastrophe“, die komplette Umwälzung aller bis dahin geltenden Ordnung. Man tauscht nach und nach Bücher gegen Brot und nimmt doch alles irgendwie klaglos hin, als sei es eine gewaltige Naturkatastrophe, ein sich wiederholendes Gehen und Vergehen, sinnlos, sich dagegen aufzulehnen. Ossorgin erzählt von Krieg, Chaos, Zerstörung und Gewalt, vom Aufstieg der dumm-dreisten Mitläufer und vom Niedergang empfindsamer Menschen. Er ist ein enorm sprachmächtiger Autor, stilistisch absolut sicher gehört er zweifelsfrei zu den großen Klassikern der russischen Literatur. Gleichzeitig ist er ein moderner Schriftsteller, der virtuos mit dem Wechsel von realistischem und symbolisch-parabelhaftem Erzählen spielt. Wir, die Leser, betrachten das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln, gewissermaßen durch die Augen der Protagonisten. So haben wir es hier trotz expressiver Kriegs- und Revolutionsgeschichten auch mit einem Werk tiefster Menschlichkeit zu tun, das uns die große Liebe eines Exilautors zu seiner auf immer verloren Heimat Russland spüren lässt.
Wir vollziehen lesend nach, was Ossorgin selbst über seine Art zu schreiben festhielt: „Ich schreibe keine Literatur, ich beschreibe das Leben.“ Wie wahr und ganz sicher bescheiden untertrieben. sg
520 Seiten
42€
Herbst 2015
Olivier Rolin: Der Meteorologe
Liebeskind
Ausgehend von einem Bündel Briefe, das ihm eher zufällig in die Hände fiel, rekonstruiert Olivier Rolin die Geschichte von Alexei Wangenheim. Dieser war trotz seiner adligen Herkunft überzeugter Kommunist, er verstand seine Arbeit als Meteorologe als Dienst am Volk der Sowjetunion, seine Forschungen zu Arktis und Stratosphäre sollten Russlands Fortschritt dienen, in Wind- und Sonnenenergie sah er die Zukunft der Elektrifizierung. 1934 wird er denunziert und in ein Lager verbannt, er schreibt Gesuche und Petitionen bis an Stalin persönlich. Seiner Frau und seiner Tochter schreibt er Briefe, zweigeteilt, der obere Teil an die Mutter, der untere, voller Zeichnungen, Bilderrätsel, erzieherischer Spiele, an die Tochter. Rolin gelingt es, der Spur dieses gewöhnlichen Mannes, der an Zukunft und Fortschritt der russischen Revolution glaubte, zu folgen, bis in jenen abgelegenen Wald, in dem er 1937 hingerichtet wird. Das mit den Briefen reich illustrierte Buch, erzählt die erschütternde Geschichte eines Menschen, dessen Hoffnungen jener Revolution galten, von deren grausigen Mühlen er selbst zermahlen wurde. An seinem Beispiel zeigen sich Tragik und Schrecken der letzten großen Menschheitsutopie, für die so viele gekämpft und an der so viele zugrunde gegangen sind. sd
224 Seiten,
19,90€
Herbst 2015
Die Buchhandlung
an der FU Berlin
Königin-Luise-Straße 41
14195 Berlin
Telefon 030-841 902-0
Telefax 030-841 902-13
Öffnungszeiten:
Montag bis Freitag: 9.30 - 18.30 Uhr
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Adventsamstage: 9.30 - 18.30 Uhr
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