Peter Watson. Zeitalter des Nichts

C.Bertelsmann
Als Nietzsche im letzten Drittel des 19. Jhdts. Gott für tot erklärt hatte wurde das Ende einer Entwicklung markiert, in deren Zentrum die Frage nach Gott, dem Göttlichen, nach dem Tranzendenten stand. Nach diesem umstürzenden Diktum kam es in der abendländischen Geisteswelt und Gesellschaftsentwicklung zu rasanten Veränderungen und Experimenten, die bis heute anhalten. Religiöse Institutionen, der Glaube an das Jenseits, die Vorstellung von einer allgemeingültigen und unverrückbaren Wahrheit hinter oder über den sichtbaren, irdischen Erscheinungen, all das war mit einem Male nicht mehr gültig. Auch die Frage nach dem Sinn des Lebens musste demnach neu gestellt werden. Das gemeinsame Fundament aus Heilsgewißheiten, Wertestabilität und Hoffnung auf ultimative Gnade war plötzlich weg gebrochen..
Wie die Geisteswelt, also Philosophen, Wirtschaftsethiker, Psychologen, Moralisten, Schriftsteller und bildende Künstler mit diesem umstürzenden Paradigmenwechsel umgingen und wodurch er verursacht wurde, das ist der Gegenstand dieses hervorragenden, auch hervorragend lesebaren und umfangreichen Buches von Peter Watson, dem bekannten britischen Wissenschaftjournalisten, der schon durch einige kultur- und geistgeschichtliche Gesamtdarstellungen hervorgetreten ist. Es sei das Zeitalter des Nichts angebrochen schreibt er, obschon er es auch hätte das Zeitalter von Allem nennen können, denn alles geriet in Bewegung, alles war möglich. Alles das, was man vordem gewohnt war, Gott oder dem Göttlichen zuzuschreiben, musste jetzt woanders gesucht werden bzw. von woanders herkommen. Und die Bemühungen der Philosophen, Psychologen und Literaten, die bei der Geburt eines neuen Koordinatensystems die Geburtshelfer waren, schildert uns Watson ausführlich und anschaulich. So begegnet der Leser bekannten und weniger bekannten Männern und Frauen aus Philosophie und Kunst, deren Leistung im Lichte der Fragestellung des Buches und der Notwendigkeit auf diesen Paradigmenwechsel zu reagieren, ganz neu gewürdigt werden kann. Es wundert nicht, wenn man Namen liest wie Marx, Freud, Dewey, Wittgenstein etc.. Überraschend ist, wenn Watson auf die Beiträge von z.B. Proust, V. Woolf, Kafka, Lawrence und anderen hinweist.
Atheistische Ersatzreligionen wie der Nationalismus, der Faschismus und der Kommunismus beanspruchten den vakant gewordenen Thron, mit dem bekannten Ergebnis. Nachdem schon der erste Weltkrieg und seine Folgen die offenbare Abwesenheit Gottes sicht- und spürbar gemacht hat, um wieviel mehr der zweite mit seinem nicht zu überbietenden Grauen. Dieser Zusammenbruch aller religiöser oder spiritueller Traditionen und Gewißheiten hat Raum geschaffen für die Forderung nach neuen Mitteln und Wegen, der Welt einen Sinn abzugewinnen, wenn es denn einen gibt. Die verschiedenen Gesellschaftsutopien und –systeme gaben nicht genug Antwort auf die fundamentalen Fragen des Daseins. Watson macht unter anderem klar, dass mit der zunehmenden Psychologisierung unseres Denkens und Alltages die Sinnsuche immer mehr auf das eigene Selbst nach innen gerichtet wurde, mit Folgen, die man heute allenthalben beobachten kann. Kosmologen, Physiker und Evolutionsbiologen von heute kommen auch zu Wort und erweitern die Angebotspalette an Antworten.
Diese wenigen Andeutungen sind nur ein schwaches Abbild von der Menge des Materials, das Peter Watson dem Leser vorlegt. Er tut es mit nie erlahmendem Schwung und verhehlt nicht seine offenbar positive Einstellung zum Dasein in seiner Fülle und seinem Zauber.
Es ist nicht neu zu sagen, dass man die Gegenwart nur verstehen kann, wenn man von der Vergangenheit weiß, Das vorliegende Buch belegt aber beindruckend die Richtigkeit dieses Satzes. kp
768 Seiten
29,99 €