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Michael Krüger. Im Wald, im Holzhaus. Gedichte

Suhrkamp Verlag

„Was Gott so alles erlaubt, wenn der Tag lang ist...“
Gedichte des gut getarnten Mystikers Michael Krüger

„Es ist vielleicht nicht ganz falsch, Michael Krüger einen gut getarnten Mystiker zu nennen. Oder einen Schriftgelehrten am Ende aller Bücher, wo die Weisheit der Meister beginnt, jene närrische Weisheit, die ihr letztes Wort ins Wasser schreibt...“, so die Worte des hellhörigen Adolf Muschg im April 1986 (!) in seiner Laudatio auf den Peter Huchel-Preisträger Michael Krüger.
Neben vielem Gutgemeinten im übergangslosen Grenzgebiet von Literatur und Theologie ist die Stimme Krügers vom Vergnügen der Weltwahrnehmung geprägt, die für ihn unbeirrt „Schöpfung“ ist und deren Botschaften er in „närrischer Weisheit“ niederschreibt, deren schelmisch-klugen Züge und intellektuelle Schwerelosigkeit ihn zu einem einzigartigen Zeit-Genossen machen.
„Gott ist stark durch uns,/seine Lehre leicht, doch schwer zu leben,“ heißt es in „Hinter der Grenze“ (1989) – ein literarisch-theologischer Satz, lakonisch genau, die Bibel in zwölf Worten. Und 30 Jahren später, heute, schreibt er: „Hätte ich Zeit, würde ich jetzt die ganze Bibel noch einmal lesen, auf Knien.“ Der homme de lettres weiß, dass in der Bibel alle Romane schon einmal geschrieben sind...So meint es auch Muschg in seiner Preisrede, wenn er sagt, dass Krüger einem Horizont folge, den er „niemals einholen“ wird. Es ist eben wie in der Bibel: Es kommt immer zuviel dazwischen, „zwischen Bild und Bedeutung, Ich und Du, zwischen Lüge und Wahrheit, Leben und Tod. Von diesen Zwischen-Räumen handeln Krügers Gedichte.“ So auch die zwischen Leben und Tod jüngst erschienenen.
Gleich einem „Hieronymus im Gehäus“ auf dem Stich von Albrecht Dürer sitzt der Autor, geschieden von der Welt, im wörtlichsten Sinne „abgeschieden“, aber noch am Leben im Holzhaus im Wald, nahe dem Starnberger See, denn sein Immunsystem hat die „guten Tage hinter sich“. Eine Leukämie-Erkrankung zwingt, ja verurteilt ihn zu einer fugendichten Quarantäne: „Alles, was ich durch mein Fenster sehen kann...“ ist die erste Zeile des Bandes. Wer mitliest, muss in dieses Eremiten-Gehäuse, das ihm um des Lebenswillen zum Mittelpunkt der Welt wird. Anders als die klügste Kirchenvater der antiken Welt, Hieronymus (347 - 420), der mit seiner lateinischen Bibelübersetzung, der bis heute gültigen Vulgata, die das Christentum geprägt hat, der als einziger auch Hebräisch gelernt hatte, der (mit einer kleinen Frauenkommune!) im „Gehäus“ in Bethlehem sitzt und für eine gerechte Ordnung der Welt aufschreibt, was notwendig ist, anders als dieser sitzt Michael Krüger und denkt nach über die „vier Räder am Thronwagen Gottes: Unterscheidung, Einsicht, Gedächtnis und Freude.“ Anders und doch so nahe dem Hieronymus und dem Propheten Ezechiel, der das Bild vom vierrädrigen Wagen, dessen Räder in alle vier Himmelsrichtungen fuhren. Wie das geht? Ezechiel sah sie... Krüger notiert: „In dieser Zeit es gut, theologische Bücher
zu lesen.“
Im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschienen sie zuerst, Prosagedichte, Notate, Botschaften, lyrische Protokolle und die immer mitgehende Nachricht von der erzwungenen Vereinzelung, in der die Aufmerksamkeit für Bäume, Krokusse, Grünspechte, Grasmücken, Glockenblumen wuchs: „ Ich muss den Dingen eine Wahrheit geben, die sie von selbst nicht haben können, sonst geht alles ein. Ich auch...fünf Meter breit ist mein Fenster, vier Meter hoch, die Einstellung bleibt immer gleich, in Farbe.“ Ach, und „dazwischen schlucke ich meine bunten Pillen, deren Namen an aztekische Götter erinnern, Venclyxto oder Venetoclax...“ Er nimmt die Welt draußen wahr mit ihren alt-neuen Denkern, „unvorstellbare Spießer“, „keine Ketzer, Zweifler, Grübler, keine Abtrünnigen, Glatzköpfe in Lederhosen, die in meiner Heimat, Sachsen-Anhalt und Thüringen, Furcht und Zittern erzeugen wollen mit Plastikpistolen von Jahrmarkt...“ Dann doch eher Rabbi Akiba, der als Schriftgelehrter im 1. Jahrhundert über jedes Häkchen in der hebräischen Schrift Haufen und Haufen von Lehren vortrug! So kommt er durch die Tage, mit einem Talmudtraktat, Gedichten von Novalis, Listen von Plinius und immer als Maxime seines Aufschreibens gegen: Mittelmäßige Weitschweifigkeit...Die Losung vor Augen: „Jetzt bloß keine Angst kriegen und stehen bleiben.“ Am 9. Dezember wird er 78 Jahre alt. Großer Glückwunsch: Auf 120 Jahre und drei Monate! Drei Monate? Ja! Man will ja nicht so plötzlich sterben.
Dank an Michael Krüger im Wald, im Holzhaus. Nur nebenbei: Er soll schon wieder gesehen worden sein.
Helmut Ruppel

116 Seiten
24 Euro