Daniela Dröscher. Lügen über meine Mutter

Verlag Kiepenheuer & Witsch
Es ist die Zeit von Rondo Veneziano, Dallas, Wackersdorf und Trennkost-Diät – das Meiste gehört der Vergangenheit an. Dass eine Frau möglichst wenig Raum einnehmen soll mit ihrem Körper, ist bis heute so geblieben. Verblüffend, mit welcher Schamlosigkeit und Gemeinheit, aus welcher Machtlosigkeit und aus welchem Kontrollbedürfnis heraus der Mann seiner Frau wieder und wieder vorhält, zu dick zu sein. Wo alle anderen mit ihrer Partnerin kommen, zur Weihnachtsfeier, zum Strandurlaub, muss er sie zu Hause lassen. Maßlosigkeit und Nimmersattsein rühren an seine Männerangst, ist er doch in Wirklichkeit selbst hilflos verfangen in seiner Rolle als Mann und Vater. Als seine Frau erbt, gibt er eine Weile Ruhe, er ist zu beschäftigt damit, den Hausbau zu planen und mit seinem neuen Cabrio herumzufahren. Derweil lernt die Frau Französisch, um mehr zu verdienen, nimmt das Nachbarsmädchen Jessy bei sich auf, um es vor dem Heim zu bewahren, pflegt die alzheimerverwirrte Oma Ella, die erst immer spazieren gehen will und später bettlägerig ist. Neben Oma Ella und Jessy hat sie noch ihre eigenen beiden Töchter im Schlepptau. Aus der Perspektive der älteren Achtjährigen erleben wir Mutters Hungerkuren, kindliche Trennungsängste und Hin- und Hergerissensein zwischen den Eltern. Aus der Perspektive der erwachsenen Tochter in kurzen Zwischenkapiteln und im Zwiegespräch mit der Mutter dann die Rückschau, auch auf das Patriarchat: »Was machst du eigentlich den ganzen Tag?, wollte mein Vater wissen, als meine Mutter sich wieder einmal weigerte, nach Feierabend auf das Fahrradergometer zu steigen.«
Familie ist eben ein sprudelnder Quell für Inspiration, das wusste schon Tolstoi: »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.« Wie sich Daniela Dröscher mit ihrer Herkunft und Familie literarisch befasst, ist gelungen und mutig. Und packender könnten die 1980er in einer Kleinstadt im Hunsrück kaum erzählt sein. Norma Cassau
448 Seiten
€ 24,-