LISA WEEDA. ALEKSANDRA

Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
Kanon Verlag
286 Seiten
€ 25,-
Gold ist das Geweih der Hirsche, dem Symbol der Familie Krasnov, Weiß sind ihr Fell und das Leinen; Blau die Blumen, Rot die Liebe. Baba Mari, Lisas Urgroßmutter, bestickt ihr weißes Leinentuch außerdem auch mit schwarzem Garn, denn schwarz steht für die fruchtbare Erde des Donbass, und für allen Verdruss. In einer Geheimsprache aus unterbrochenen oder jäh endenden Lebenslinien, Namen und Farben stickt Baba Mari die Geschichte ihrer Donkosaken-Familie heraus. Da ist ihr Vater, der 1904 in den russisch-japanischen Krieg zieht und als gebrochener Mann zurückkehrt. Da ist die Gemeinschaft der Donkosaken, die als Strafe für ihren Kampf auf der Seite des Zaren nach der Revolution »entkosakisiert« und deportiert wird. Da ist ihre Familie, die im Zuge der Bolschewisierung und »Entkulakisierung« durch Brigaden von Roten von Haus und Hof vertrieben und ihres Getreides beraubt wird, wobei die Ehrlosen sogar das Saatgut verschleppen – aber die Familie überlebt den Holodomor, wenn sie auch spindeldürre, fremde kleine Mädchen mit geschwollenen Beinen begraben muss.
Als Baba Maris Tochter Aleksandra elf Jahre nach der Hungersnot 1942 am Bahnhof von Luhansk steht und in den deutschen Viehwaggon steigen muss, der sie als »Ostarbeiter« in eine deutsche Fabrik befördern wird, schenkt Baba Mari ihr das Tuch, sie soll es weiter sticken und niemals aus der Hand geben. Aleksandra kehrt nie zurück in ihre Heimat – aus Angst, dort als Kollaborateurin verhaftet zu werden, und weil sie in der Fabrik den niederländischen und ebenfalls zur Zwangsarbeit verschleppten zukünftigen Vater ihrer Kinder trifft.
Nun, 2014, soll Aleksandras Enkelin Lisa im Auftrag ihrer Großmutter das Leinentuch zurück nach Luhansk bringen, wo die Volksrepublik ausgerufen wurde. Es soll ihrem Cousin Kolja helfen, denn er wird vermisst, das Beharren auf seiner Freiheit, die in seiner Kosakenfamilie immer an oberster Stelle stand, hat ihn in schreckliche Schwierigkeiten gebracht.
Es ist Lisas Urgroßvater Nikolaj, der sie zu Kolja führt, die drei begegnen sich außerhalb der Zeit, im Palast des verlorenen Donkosaken, und dort schließt sich am Ende auch der Kreis, als sich die Silhouetten der Hirsche »auf der dünnen Linie zwischen dem hellblauen Himmel und dem goldgelben Feld« verflüchtigen. In fantastischen Zeitsprüngen nimmt Lisa Weedra ihre Leser auf dem Rücken der Weißen Hirsche mit den goldenen Geweihen mit auf eine Reise durch die bewegte Lebensgeschichte ihrer Ahnen, deren bewaffneter Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit heute das Selbstbild vieler Ukrainer prägt. Norma Cassau