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Bücherbriefe

Jaroslav Rudiš. Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen

Piper Verlag München

Ein mit-reißendes Buch! Ein Buch fürs Unterwegs-Sein. Der Autor kennt jede Weiche in Europa, jede Speisekarte zwischen Prag und Hamburg, jeden Tunnel zwischen Semmering und Gotthard. Wer in Richtung Kuopio muss und noch einen Grundkurs in finnischer Bahnhofsprache braucht, bitte ab S. 73.
Hier gilt es unbeschwert: Das Leben in großen und kleinen Zügen genießen! Mit einem Großvater als Weichensteller, einem Onkel als Fahrdienstleiter und einem Cousin als Lokführer und Bohumil Hrabals „Liebe nach Fahrplan“ als Lieblingslektüre – da genießt man als Mitreisender jede Verspätung! Zug um Zug ein reines Vergnügen! Helmut Ruppel

256 Seiten
15 Euro

Ljudmila Ulitzkaja. Alissa kauft ihren Tod. Erzählungen

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Hanser Verlag München

Ob ihr Band „Eine Seuche in der Stadt“ (2021) sie angeregt hat, diese Erzählungen zu sammeln? Im dritten Teil des Bandes stellt sie reichlich sarkastische Miniaturen zusammen, „Sechs mal sieben Miniaturen“, darunter „Sieben Tode“, „Sieben Geburten“, „Sieben Krankheiten“, aber auch „Sieben Ehepaare“. Und auch sonst spielen die Zeit und der Tod wie bei Claudio Magris – trotz mannigfacher Unterschiede – eine große Rolle, hinzu kommt, dass beide seit geraumer Zeit „Geheimfavoriten“ für den Nobelpreis sind, aus gewichtigen Gründen!
Die Alissa der Titelerzählung möchte zum Sterben hin kein Pflegefall werden, sie sucht ein Mittel zum sanften Suizid. Da bekommt ihre Schwiegertochter ein Kind – sie wird eine glückliche Großmutter! Seit Anfang März lebt Ulitzkaja in Berlin. Sie ist nicht geflohen, aber eins gilt: Putins Russland ist nicht ihr Russland. Und sie ist der festen Gewissheit: „Wenn der Krieg gestoppt wird, dann nur von Frauen!“. Und sie werden porträtiert in den Erzählungen. „Ich liebe diese leichtsinnigen, weisen, schamlosen, bezaubernden, verlogenen, wunderbaren, abergläubischen und treuen, diese überaus klugen und unfassbar dummen Frauen, von denen die Engel im Himmel noch lernen könnten … ich brauche euch, wie ihr seid ...denn ich bin wie ihr und passe zu euch.“ Es gibt Schnapsgelage unter Freundinnen, vorsichtige herzbewegende Liebe, erotische Kosenamen, ironische Nasenstüber und den fortlebenden homo sovieticus. Man muss oft tief durchatmen, das Buch beiseite legen, sich umschauen nach der Welt, in der man lebt - und dann sofort weiter lesen! Immer geht es um Freundschaft, widerständige Klugheit und Lebenszuversicht in Fülle und Vielfalt. Nicht im Großraumwagen zu lesen, Abteil wäre eine gute Wahl …
Helmut Ruppel

304 Seiten
25 Euro

Aharon Appelfeld. Sommernächte

Rowohlt Verlag

Sommernächte werden kommen und sind schon da, wiewohl die Horizonte der Gegenwart an alles andere zu denken zwingen als verblühende und sich wieder aufrichtende Rosen und im Dunkel der Nacht zu Boden fallende Äpfel ...
Appelfelds Buch erschien in Israel 2015 und brauchte sieben Jahre bis zu uns. Ob wir es in einem glücklichen Sinne seinem Tod 2018 zu verdanken haben? Es ist das Buch eines sehr alten Mannes, der sich seiner frühen Kindheit erinnert, des letzten Sommers seiner Kindheit. Er streift als kleiner Landstreicher an der Hand des Großvaters auf der Flucht vor allen Schrecken des Krieges und des Judenhasses durch die Wälder seiner ukrainischen Heimat – für Appelfeld das prägende Lebensthema.
In dem berührenden Erzählband „Meine Eltern“ (2019) malte er uns das Bild seiner Kindheit in den Ferien am ukrainischen Prut, der durch die Bukowina fließt, in der nach Paul Celan „Bücher und Menschen“ leben. Rose Ausländer, Paul Celan, Gregor von Rezzori, Selma Meerbaum-Eisinger haben ihn rauschen hören. Noch heute hängt neben der Tür zu Rose Ausländers früherem kleinen Elternhäuschen an einer abschüssigen Straße in Czernowitz hinab zum Prut eine gesplitterte Glasscheibe mit einem erinnernden Wort Ausländers über die grünen Fluten des Prut. Die Sommernächte sind sehr ruhig, leise, kaum mehr zu hören, schon still. Die Gespräche der beiden knapp, fast tonlos, „kam ein Wort“ (Celan), durchbrach es die Stille. Die Wälder haben ihre Geräusche, die Tiere sind stumm. Sprechen die beiden mitunter, geht es um Träume, die Eltern, Gott und die tägliche Sorge um etwas zu essen.
Der Erzählstil Appelfelds ist völlig zurückgenommen, er nähert sich den stillsten Geschichten der Bibel. Manchmal sagt der Alte: „Janek, lies einen Psalm!“ Der fragt: „Welchen?“ Und der Alte erwidert: „Ist gleich. Alle sind gut“. Das Buch ist kein „Alterswerk“, das ist falsche Einbandsprache.
Mit dem Buch ist ein Endpunkt erreicht ... Für den Elfjährigen hat das Leben noch nicht begonnen. Es verfügt über Stille, eine zu sich gekommene elementare Ruhe. Manchmal glaubt man, der Autor hat vergessen, dass es ein Buch werden sollte, er wiederholt sich: Hat er das vor ein paar Seiten nicht schon mal erzählt? Aber da regiert eine große Gegenbewegung zu Lärm, Tempo, Aufregung und hohler Dramatik. Ein Junge und ein alter Mann in Freundschaft und Nähe in der sommernächtlichen Welt der Wälder, mal ein Satz über Gott, mal ein Wort über den Krieg, und wieder Weiterziehen ...
Nein! Nicht melancholisch, geschweige denn depressiv! Ruhig, gefasst und gefestigt, von Psalmen gestärkt, von Güte ermutigt, kurz - was Literatur kann und soll, ist wunderbar zu erleben - das Leben verstehen und der Barbarei widerstehen!
Dank an Aharon Appelfeld und sein Lebenswerk! Dies Erzählen aus und über die Ukraine stärkt die Verbundenheit mit den vielen Stimmen, die im Raketenhagel zu verstummen drohen …
Helmut Ruppel

221 Seiten
22 Euro

Uwe Wittstock. Februar 33. Der Winter der Literatur

Verlag C. H. Beck

Am 1. April 1938 war von Weizsäcker in die NSDAP eingetreten, wurde Staatssekretär im Auswärtigen Amt, in die SS aufgenommen, später SS-Brigadeführer samt Totenkopf-Ehrenring und SS-Degen – offenbar ein verlässlicher Mann der Macht. Wir wissen nicht präzise, wo er und mit welchen Kenntnissen er den Februar 1933 verbrachte, offiziell Gesandter in Oslo. Ob er vom blitzschnellen Verjagen der deutschen literarischen Elite im Februar 33 nichts erfahren hatte? Den Taliban in Kabul gleich, trieb die neue Macht in wenigen Wochen die tonangebenden Stimmen in Literatur, Theater und Presse in die Flucht, ins Untertauchen, in katastrophische Kälte.
„Berlin, 7.2. 1933 – Mein liebes Kind! Grippewelle u. Heil Hitler beherrschen den Markt...die Grippe ist sehr schlimm. Humlis Klasse ist schon 2 Wochen geschlossen, er selbst gesund u. sehr vergnügt ob der Extraferien...ich war letzten Montag im Faust u. schaute in der Pause auf den Gendarmenmarkt hinunter, da zogen unabsehbare Fackelzüge nach den Linden. Eine Stunde später, in der 2. Pause, zogen sie noch immer. (Wo hatten die Nazis so schnell 20 000 Fackeln her?). Sonst aber herrscht eigentlich Ruhe...“ Betty Scholem schreibt ihrem Sohn Gershom (Gerhard) nach Jerusalem, wie sie den 30. Januar erlebt hat, äußerlich beruhigt, zwischen den Zeilen zittern Ahnungen. (Betty Scholem-Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel 1917-1946, C.H. Beck, 579 S.). Uwe Wittstock erzählt den gesamten 30. Januar unter der Überschrift „Die Hölle regiert“: Joseph Roth nimmt sofort am Morgen den Zug nach Paris, Egon Erwin Kisch trifft in Berlin ein, Klaus Mann verlässt die Stadt, Georg Kaiser und Hermann Kesten lesen die BZ-Schlagzeile „Adolf Hitler, Reichskanzler“, Carl von Ossietzky verlässt die U-Bahn, um sich den Nazi-Rummel anzusehen, Hermann Kesten und Erich Kästner bereden die mögliche Flucht in der Weinstube Schwanneke, Harry Graf Kessler sieht vorm Hotel Kaiserhof die Nazikolonnen marschieren, Hitler befasst sich mit dem Gerücht, Hammerstein wolle gegen Hindenburg putschen...so geht es über Stunden am 30. Januar, präzise literarische Miniaturen in rascher Folge, gleich packenden Filmsequenzen. Wittstock beginnt sein Buch mit einem erzählenden Großphoto vom alljährlichen Presseball am 28. Januar auf dem sich tout Berlin trifft...und endet am 15. März. Besondere Aufmerksamkeit erhalten Else Lasker-Schüler, Ernst Toller, Carl von Ossietzky, Nelly und Heinrich Mann, Thomas Mann, Gottfried Benn, Vicky Baum, Alfred Döblin, Ricarda Huch (!), Gabriele Tergit, Oskar Loerke, Erich Mühsam, Bert Brecht und die wichtigsten Stimmen der Preußischen Akademie der Künste, deren Um-Fall zu den beschämendsten Kapiteln der rigorosen Gleichschaltung gehört. Deutschland hat sich von dem faschistischen Furor im Februar 33 nicht mehr erholt - und Wittstock lässt es miterleben, mithören, mitlesen, aber auch mitaushalten? Hermann Göring, preußischer Innenminister nannte die Ziele der Naziherrschaft: „Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristische Bedenken. Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts!“ So geschah es. Es gingen so viele, mit Schirm und kleinem Koffer, um nicht aufzufallen...Von Seite zu Seite denkt man: Was geschähe heute in ähnlicher Lage? „Widerstand durch Mitmachen?“ Der „rasenden Verwandlung Deutschlands in eine Hölle aus Diktatur und Terror“ (Sten Nadolny), dem „Winter der Literatur“ , dem „furchtbaren Augenblick“ (Lessing) ist Uwe Wittstock gerecht geworden. Respekt!
Helmut Ruppel

288 Seiten
24 Euro

 

Günther Rühle. Ein alter Mann wird älter. Ein merkwürdiges Tagebuch

Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Ahrens
Alexander Verlag Berlin

Günther Rühle gebührt Respekt für seine großartigen Arbeiten zur deutschen Theatergeschichte: „Theater in Deutschland 1887-1945“ , ein Grundlagenwerk. Ohne ihn wären Marieluise Fleißer und Alfred Kerr kaum erkennbar geblieben. 25 Jahre war er prägender Redakteur im FAZ-Feuilleton, später beim Tagesspiegel. Frontenwechsler als Intendant in Frankfurt. Respekt soll ihm gezollt werden für etwas Außerordentliches, Unglaubliches, Einmaliges: Ein 96jähriger schreibt ein Tagebuch! Ein Mensch, der sein Leben mit kritischem Hinsehen, mit dem analytischen Blick auf die Bühne, verbracht hat, verliert die Sehkraft – „trockene Makula“ und die technisch-digitale Welt verliert ihre Konturen. Computertastatur, Radio, Faxgerät, CD-Plattenspieler, Mikrowelle mit ihrer Knopfleiste - „Auftauen“ - das zunehmend tastende Bewegen in der Wohnung, das alles muss bewältigt werden. Kleine Katastrophen zuhauf. Nun sieht er nur noch ein Ziel: „Ich wehrte mich gegen das Veraltern im Alter“, das Gefüttert-Werden, wie es den verehrten, großen klugen Köpfen widerfuhr, Walter Jens und Joachim Kaiser. Nun kämpft er gegen das „Ent...“, entbehren, entsagen, enthalten – bis zum entsorgen? Währenddessen strömen die Erinnerungen an die Kindheit, die Kollegen, die Künste. Er schreibt ein in des Wortes erster Bedeutung „merkwürdiges“ Tagebuch, vom Oktober 2020 bis zum 27. April 2021. Uneitel, voller Anekdoten, mit ironischer Milde, anti-narzistisch, verstört, aber klaglos, plötzlichen Kindheitssignalen, alltagsreal: „Seit ich nicht mehr lesen kann, haben die Tage mindestens 47 Stunden.“ „Das Altern ist eine Blüte der Hoffnungen im Zustand des Schrumpfens. Ich habe mich heute in ein Schwimmbecken von Hoffnungen gestürzt und jetzt läuft irgendwo das Wasser weg...“ Gerhard Ahrens hat aus allem ein „Tagebuch“ werden lassen, gerahmt, mit Anmerkungen gestützt und herausgegeben samt einem Nachwort „Der andere Günther Rühle“ - eine des Dankes werte Assistenz! Wie mag es Günther Rühle heute gehen? Er ist Jahrgang '24...Im Alter nicht veralten! Danke für diesen Anstoß! Helmut Ruppel

232 Seiten
22, 90 Euro

Lizzie Doron. Was wäre wenn

Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Deutscher Taschenbuchverlag


Es heißt, Juden seien Menschen wie alle anderen auch – nur ein wenig mehr. Das ist nicht überheblich, sondern selbstironisch, wie überhaupt kein Volk der Erde sich mit seinem Witz so umfassend über sich selbst lustig macht wie das jüdische. (Das kann auch gefährlich werden, wenn Antisemiten anfangen, jüdische Witze zu benutzen...) Im Alter veralten? Das kann nicht sein für Lizzie Doron, deren so mündliches, so fragendes, so streitendes, so herzzereißendes, so liebendes Buch wir hier vorstellen, nein, Ihnen ans Herz legen wollen. Sie ist 1953 in Tel Aviv geboren (heute mit Zweitwohnsitz in Kreuzberg) und erzählt mit ihrer Lebensgeschichte die Geschichte des Staates Israel. Dieses Viertel in Tel Aviv hat sie geprägt: „...in dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, geht man nicht verloren. Der Mann aus Sobibor kennt die Frau aus Bergen-Belsen gut, und sie bringt mich zu der Frau aus dem Ghetto Krakau, die mich schließlich zu der richtigen Mutter aus Auschwitz zurückbringt.“ Ihre Eltern sind Schoah-Überlebende, vor allem mit der Mutter bringt das Generationenkonflikte. Lizzie – in der Grundschule wurde aus Elisabeth Alisa, später Lizzie – ist träumend-leidenschaftliche Zionistin und gerät mit der Mutter aneinander: „Ein unsagbar schönes Leben liegt vor uns, und nur meine Mutter verdirbt die Stimmung. 'Was ist denn würdiger als die Heimat?', halte ich ihr vor. 'Wem sonst sollen wir unser Leben widmen?' ' Wenn...', sagt sie, aber ich fahre ihr gleich über den Mund. Ich weiß, sie will sagen, wenn ich im Holocaust gewesen wäre, würde ich sie verstehen. 'Ist es das, was du willst?', stichle ich. 'Dass ich auch an deinem Holocaust teilnehme?' ' Die Mutter, traumatisiert, der Erinnerungen voll und von Opfererfahrungen gezeichnet – die Tochter, bereit zu Stärke, Aufbau, Verteidigung und Überlebensenergie – die Generationen dürfen nicht zerreißen! Ein Anruf aus dem Krankenhaus versetzt den Alltag in heftige Schwingungen, Yigal, die frühe und nie ganz vergessene Liebe, liegt im Sterben und bittet um eine letzte Begegnung. Yigal, er war Nähe und Horizont aller Wünsche und Träume, mit dem Zeug zum Generalstabschef und heute Friedensaktivist. Er wird sterben und sie geht aus dem Krankenzimmer, sein „Danke“ im Ohr, und sagt“ 'Bye' - als würden wir uns morgen wiedersehen.“ Damit beginnt das Buch der Erinnerungen, der Lebenskorrekturen, Kriegserlebnisse, der vielen Lebensschwingungen in einem kleinen Land, dem die Schatten der Vergangenheit die Horizonte der Zukunft noch immer nicht leuchten lassen. Lizzie Doron erzählt unbeirrbar, unbezwingbar, unbeeinträchtigt, zutiefst menschlich, geschwisterlich und mit unverwandtem Blick auf eine mögliche Mitarbeit am Frieden. „Wenn ihr es wollt, ist es kein Märchen“, war die zionistische Verheißung, „Was wäre wenn...“ bleibt die Aufgabe. Hat heute Lizzies Doron eine Zweitwohnung im Westberliner Kreuzberg, weil ihre Mutter noch in Polen von einem Studium in Berlin träumte, so verbindet Barbara Honigmann mit Ostberlin ihre Kindheit, Schulzeit, Studium und erste berufliche Praxis. Ein wenig kennen wir die Ostberliner Situation der Kinder zurückkehrender jüdischer Emigranten aus den Büchern von Irina Liebmann. Helmut Ruppel

144 Seiten
18 Euro

Barbara Honigmann. Unverschämt jüdisch

Hanser Verlag

Die Eltern kamen als Juden aus englischem Exil zurück und gingen wie selbstverständlich in das „andere Deutschland“ mit seinen kleinen nichtjüdisch-jüdischen Gruppen. Heute wohnt Barbara Honigmann in Straßburg, deren jüdische Gemeinde ihr wohltut. Welcher Strömung innerhalb des dialogfreudigen Judentums gehört sie an? Liberal ? Modern-orthodox ? Darauf geht sie in einem wunderbaren kleinen Text ihres neuen Buches ein: Das Buch sammelt Dankesansprachen, deren Anlass Preisverleihungen waren, von denen sie viele erhalten hat, so viele, dass ein eigener Band sie sammeln konnte. Mit selbstgewisser Mündlichkeit spricht sie über Menschen, Themen und Orte, die mit den Auszeichnungen verbunden waren. Darunter auch den kleinen Text „ Das Problem mit der Kopfbedeckung“. Sie fühlt sich einer Gruppierung nahe, die schomer mitzvot in der Lebenspraxis üben, „ das heißt, uns ohne übertriebenen Eifer darum darum bemühen, die Gebote und Verbote zu beachten.“ Dabei werden sie Grenzgängerinnen zwischen den tonangebenden Traditionen – ein sehr bewusst gelebtes Judentum. Dem entsprechen viele der Reden, mag es um Ricarda Huch oder Elisabeth Langgässer gehen, um Jakob Wassermann oder das Paar Kafka und Proust, um „Erinnerung und Erzählung“, stets steht die Frage nach dem „un-verschämten“ Judentum im Zentrum. Sartres „ Betrachtungen zur Judenfrage“ waren 1963 bei Ullstein erschienen, das Bändchen wurde von West- nach Ostberlin durchgeschmuggelt und die vierzehnjährige Barbara Honigmann entdeckte, dass der Titel „Juif inauthentique“ mit „verschämter Jude“ übersetzt worden war. „Inauthentique“ ist nicht „verschämt“ - sondern „authentisch“, besser: kräftiger, klarer „un-verschämt“! „Wahrscheinlich ringe ich seit meiner Lektüre dieses Buches als 14jährige damit, mein Judentum, in das ich hineingeboren wurde, un-verschämt zu leben und schließlich, erwachsen geworden, auch so davon zu sprechen, zu erzählen, zu schreiben“. Und angesichts der erworbenen Selbstgewissheit und ausstrahlenden Freude, mit der sie das tut, kann man sich nur verbeugen, ihr zuhören und viel von ihr lernen! Vielleicht auch die charmante Gelassenheit? „1700 Jahre Judentum in Deutschland“ – welch ein Geschenk! Helmut Ruppel

159 Seiten
20 Euro

 

Ljudmila Ulitzkaja. Eine Seuche in der Stadt

 

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Hanser Verlag

Es ist Pandemiezeit, man bleibt besser zu Hause. Ljudmila Ulitzkaja nutzt die Zeit zum Aufräumen alter Papiere. Da fällt ihr ein Manuskript von 1978 in die Hände, „Tschuma“, heißt es , „Die Pest“ - ein Pestausbruch in Moskau, der dank einer dichten Schweigemauer und des extrem effizienten NKWD nahezu unbekannt geblieben. Der Vater einer Freundin war als Pathologe an den Ereignissen beteiligt – er erzählte davon...und Ulitzkaja als interessierte Genetikerin nahm den Stoff auf, entwarf ein „Szenario“ und bewarb sich damit für einen Drehbuchkurs. Der Text verschwand in der Schublade – bis sie ihn wieder entdeckte, sehr zeit-gerecht, überaus aktuell. Da aber gerade Camus' „Pest“ ständig gedruckt wurde, bekam Ulitzkajas „Tschuma“ den Titel „Eine Seuche in der Stadt“; sehr zutreffend und mit dem Wort „Seuche“ dicht an der drohenden Moskauer Katastrophe. Karl Schlögel hat in „Traum und Terror“ die Jahre 1938/39 in der UDSSR mit ihren alptraumhaften Prozessen und Säuberungen beschrieben. „Schwarze Raben“, die Verhaftungswagen des NKWD fuhren zu vielen Adressen, zu denen der schon Infizierten und zu denen der bald Inhaftierten. Die Prozess-Schatten fallen auch in die Pestbekämpfung. Was war geschehen? Ein Forscher hatte sich, irritiert durch einen Anruf, der ihn nach Moskau beorderte, unversehens angesteckt, war auf der Reise vielen Menschen begegnet, in Moskau mit Kollegen Gespräche geführt, erkrankte augenfällig und allen Beteiligten war klar: Pest! Mit unvorstellbarer Rasanz geschieht nun eine Totalabsperrung, sämtliche denkbare Quarantänemaßnahmen werden ergriffen, die Kontaktverfolgung des Infizierten vollzieht sich mit dem NKWD-Apparat perfekt und hocheffizient. Spätestens jetzt ist es unmöglich, beim Lesen zu unterbrechen. Dann tritt auch ein „Sehr mächtiger Mann mit georgischem Akzent“ auf, der kabarettreif sagt: „Gut! Wir helfen. Bei den Listen und auch bei der Liquidierung'. Der Volkskommissar erstarrt. 'Nein, nein, es geht nur um Quarantäne. Nicht um Liquidierung'“ Es gibt groteske wie beklemmende Szenen. Der vollständige Staatsapparat wird vorgeführt, noch immer ein Alptraum. Es gibt Helden, Bösewichte und Ungerührte. Der Text ist keine Blaupause für heute, dennoch geben wir Ljudmila Ulitzkaja das Schlusswort „Die Welt verändert sich auf unvorhersehbare Weise, und ich hoffe, dass diese neue Prüfung...uns nicht noch weiter voneinander trennt, uns nicht noch egoistischer macht, sondern im Gegenteil zu der Ansicht führt, dass es in der globalisierten Welt zu viel Hass und Brutalität gibt und zu wenig Solidarität und Mitgefühl. Das aber hängt von uns ab.“ Helmut Ruppel

112 Seiten
18 Euro

 

Die Bibel und ihre kühnen Geschichten, Das 1. Buch Mose, für Kinder zwischen 12 und 120 Jahren

Erzählt und illustriert von Peter von der Osten-Sacken
Kulturverlag Kadmos

Eine Geschichte zu erzählen bedeutet, all die Bruchstücke der Welt – Erfahrungen, Träume, unverhoffte Begegnungen, gelungene Zeiten des Glücks – zusammenzufügen. Das gelingt am ehesten mit einem liebevollen Blick, einer behutsamen Zuwendung. Die erste Leistung einer Erzählung ist, dass sie Entferntes herbeiholt. Geschehenes in die Gegenwart holt. Geschieht das bei biblischen Geschichten und wird die größte Unfallursache beim Erzählen, die gute Absicht, vermieden, kommt es zu lebhaften Entdeckungen. Das ist geglückt in diesem Band. Nacherzählen heißt neu erzählen und so heißt es zu Beginn: „Für Leo, Carlo und Hannah“, Enkel sind oft erste Adressaten...Ein jüdischer Geburtstagsglückwunsch heißt „Auf 120 Jahre!“ - so wird die Erzählung allen Altern empfohlen! Man möchte gleich den Eingang „Der erste Tag der Schöpfung“ zitieren, weil mit dem „Anfang“ schon der erzähllustige, mithörend-fragende, lehrend-heitere, Kenntnis verschenkende, liebevoll-deutende, Antworten erprobende und mit suchbereit-erstauntem Humor der Ton angegeben wird. Nie „gute Absichten“, nie fade vorhersehbar, im Gegenteil: mit solidarischer Detektivarbeit beim Begreifenwollen, beim lupennahen Mitlesen ist der Erzähler den Mithörenden nahe und weiß manchmal selber nicht, was „hat es zu bedeuten“. Der Erzähler als Mithörer, der nie das Perfekt wählt und damit alles weiß, sondern das Im-perfekte, das Unabgeschlossene scheint ihn wie die Lesenden nicht loszulassen. Da gibt es bei den sieben Schöpfungstagen so viel zum Kopfschütteln und Kopfnicken, Kopfsenken und Kopfheben, dass man nur rufen kannn: „einen Einser für den Schöpfer der Welt!“ Es wird auch oft leise beim Erzählen, ein verschwebendes Schweigen...Man hat gesagt, Literatur gründe auf liebevoller Zuneigung, ja, und hier kommen die von Behutsamkeit erfüllten, zärtlich hingetupften, dazwischen geschubsten Illustrationen hinzu, die vieles anschaubar, ansehnlich machen. Der Ordinarius, der „Hoch“-schullehrer für Neues Testament und Jüdische Studien, verlässt seinen Lehrstuhl und setzt sich in den Kreis jüngerer und älterer Zeitgenossen, hört mit, denkt mit und teilt mit - hier und da aus dem Schatz des Erlernten - zu Nutzen und großer Freude aller Generation. Helmut Ruppel

153 Seiten
19,90 Euro

Irena Veisaitė und Aurimas Švedas. Ein Jahrhundertleben in Litauen

Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig
Wallstein Verlag

Der Wilnaer Historiker Švedas führte 13 Gespräche mit der kulturell politischen Stimme Litauens, Irena Veisaité, die jeweils schöne Titel haben - „Die Überlebenden haben die Pflicht zu vergeben und die Zukunft aufzubauen“ oder „Die Arbeit war für mich eine Mission.“ Persönliche Bilder sind eingestreut und am Ende steht ein Text „Anstelle eines Epilogs“ mit dem sympathischen Eingeständnis: „Mir kommen immer mehr Fragen – und immer weniger Antworten.“ Um es vorweg zu sagen: Das Buch ist so spannend geschrieben, dass es unmöglich erscheint, nur einmal eine Pause einzulegen. Irena Veisaité hat zwischen dem 9. Januar 1928 und dem 11. Dezember 1920 ein Jahrhundertleben geführt, das alles in sich aufgenommen hat, was dieses Jahrhundert geprägt hat – gleich einem langen Fries der wichtigsten Ereignisse in Bildern, einem Gobelin gleich, dem die historischen Umstürze und Wellen, Abgründe und Aufbrüche eingewoben sind. „Überleben, um zu erzählen“, diese Intention verbindet sie mit Ruth Klüger, die zwei Monate vor ihr starb. Dem Wallstein Verlag verdanken wir: Zwei Zeuginnen des Jahrhunderts, deren Lebensgeschichten einen unverkennbaren Trotz, einen unbändigen Willen zum Unbesänftigtsein aufweisen angesichts der Aufgaben zu erinnern, zu erzählen, zu bezeugen, was geschah. Das Kindheits- und Jugendkapitel - „Das Leben sollte klar sein“ erzählt vom frühen unlösbaren Verflochtensein in eine jüdische und litauische Herkunft. Bei einer Reise mit dem Vater nach Berlin, verweist er sie auf die öffentlichen Bänke mit rassistischem Sitzverbot und schärft ihr ein, Platz zu nehmen, obwohl sie „litauische“ Papiere hatten, die nichts von ihrem Judentum sagten – eine unvergessliche Erfahrung. Das Literaturhaus Berlin zeigt im Internet ein Gespräch Irena Veisaites mit Aleida Assmann und der Übersetzerin Claudia Sinnig, der wir viele Entdeckungen litauischer Literatur verdanken, in dem diese Jugenderfahrung zeichenhaft für ein ganzes Leben steht. Aleida Assmann stellt diese Szene vor das ganze Leben: Sie lebe in einem „Erinnerungsexil“, wen interessiere jüdisches Leben in Litauen...? Mit dem Einmarsch von Wehrmacht und SS in Litauen im Juni 1941 musste sie mit Tante und Großeltern ins Ghetto Kaunas umsiedeln. Die schwerkranke Mutter gab ihr in der Klinik den letzten Lebensratschlag: Sie solle selbstständig sein, mit der Wahrheit leben und nie Rache üben. Nun liegen dies intensiven Erinnerungen einer Frau vor, die mit 13 Jahren in der Untergrundschule im Kaunaer Ghetto Schillers Balladen lernte, unter der Diktatur der SS bis zum Umfallen Zwangsarbeit verrichten musste, als Studentin über Heinrich Heine promovierte und mit den Jahren sieben Sprachen sprach. Sie überlebte nach der Flucht aus dem Ghetto im Schutz einer litauischen Familie, die sie mit der Zeit als Familienmitglied anerkannte – sie sprach ohne jiddischen Akzent. Nach dem Sommer '44 kam die „zweite Besetzung“, aber auch die Befreiung zum Leben und Lernen. Um sie kümmerte sich niemand, es gab ausschließlich sowjetische Opfer des Faschismus. Sie studiert in Moskau und Vilnius und lehrt alsbald Literatur und Theatergeschichte. Im Jahr der Unabhängigkeit ist  62 Jahre, hat zwei Diktaturen überlebt und hat Mühen, die zwei Geschichten zu erzählen: Die der Kollaboration von Teilen des Volkes mit Nazi deutschland und der Zeit unter Sowjetherrschaft. Es war ihr immer wichtig festzuhalten, wie zerbrechlich Moral, Kultur und Menschlichkeit sein können, droht ihnen die politische Macht. Sieht man die Seiten „Lebensdaten“ durch, fragt man, welche Auszeichnung, welchen Orden und welche Ehrung sie nicht erhalten hat; doch hört man ihr zu, ist die größte Ehrung, ihr zuzuhören, ein „Jahrhundertleben in Litauen“ wahrzunehmen. Helmut Ruppel

428 Seiten
24€

Lew Rubinstein. Ein ganzes Jahr. Mein Kalender

Hrsg. von Susanne Strätling und Georg Witte
Friedenauer Presse

Hebel und Brecht sind die großen Meister deutscher Kalendergeschichten – kunstvoll knapp, überraschend unüblich, verblüffend und verwegen, zwischen Aphorismus und Wälzer die Traumform. Politisch und kapriziös zugleich, das gibt's nur einmal. Kein Heiligenkalender, kein Mondkalender, kein Terminkalender, kein Jahreszeitenkalender, sondern "Ein ganzes Jahr. Mein Kalender". Nur ein Beispiel: „Juni – 18 – 1936. Tod des russischen und sowjetischen Schriftstellers, Dramatikers und der Person des öffentlichen Lebens Maxim Gorki. - Im Schulflur hingen Klassikerporträts, darunter auch Gorki. Gorki hatte einen erstaunlich traurigen und weinerlichen Gesichtsausdruck. Immer wenn Smirnow daran vorbeiging und das Porträt anschaute, sagte: „Nicht weinen, Gorki, nicht weinen. Willst du ein Bonbon?“ Alle lachten bereitwillig. Ich auch.“ So bitterlustig kann ein Bücherbrief nicht enden. Wir beginnen noch einmal mit einer Notiz Anton Tschechows in seiner Erzählung „Das Glück“. Zwei Hirten und ein Aufseher verbringen die Nacht in einer endlosen Steppe. Die Hirten erzählen sich vom Glück, das im Finden, im Aufspüren unvorstellbar großer Goldhaufen besteht. Der Aufseher schweigt; er hat offensichtlich eine andere Vorstellung vom Glück. „Sein strenges Gesicht war traurig und spöttisch, er schien enttäuscht.“ Einmal sagt er über die Möglichkeit des Glücks: „Ja, der Ellenbogen ist nahe, aber versuch mal reinzubeißen."

448 Seiten
32€

Anatoli Pristawkin. Schlief ein goldnes Wölkchen

Übersetzt von Thomas Reschke. Mit einem Nachwort von Navid Kermani
Aufbau Verlag

Navid Kermani, auf seinen Reisen wohlvertraut mit der Region, hält mit tiefer Erschütterung fest, wie es dem Autor gelingt, beim Lesenden Hunger nachzuempfinden bis die Magenwände schmerzen. Die Geschichte der Waisenkinder und Zwillinge Saschka und Kolka auf ihrer Deportation mit anderen Moskauer Waisen nach Tschetschenien ist so mikroskopisch dicht, so unentrinnbar nahe erzählt, dass einem der Atem ständig stockt. Mit sprachloser Bewunderung nimmt man die Anstrengung wahr, den Tschetschenen gerecht zu werden – ein totales Tabu in der UDSSR. Am besten, man beginnt gleich mit Michail Lermontow, zweimal in den Kaukasus verbannt, ihm ist die lyrische Titelzeile zu verdanken. Die Veröffentlichungsgeschichte des Bandes ist schon selbst ein Elend. Navid Kermani ist die vorliegende Buchform zu verdanken. Tschetschenien, die Moskauer Waisen, der Hunger, der Kaukasus, Pristawkin und das Buch – unbegreiflich, aber lesen können wir es. Helmut Ruppel

319 Seiten
22€

Gaito Gasdanow

Gaito Gasdanow. Schwarze Schwäne. Erzählungen
Ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort von Rosemarie Tietze
Carl Hanser Verlag, 271 Seiten, 24€

Gaito Gasdanow. Nächtliche Wege. Roman
Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Christine Körner
dtv Verlag, 288 Seiten, 10.90€

„Es gibt Bücher, denen man nur seine Liebe erklären kann. 'Schwarze Schwäne' ist so ein Buch“, diesen glückseligen Stoßseufzer (Juliane Liebert) kann man steigern mit dem Hinweis, dass es „nur“ neun Erzählungen sind von den 50 veröffentlichten, wir also 41 noch erwarten dürfen – wenn Rosemarie Tietze ihre Schatzgräberinnen-Arbeit fortsetzt! Ihre jeweiligen „Anmerkungen“ zu den neun Erzählungen sind kenntnisreich, literaturgeschichtlich einordnend, erhellen die Hintergrund und Entstehungssituationen, helfen bei philologischen Verstehensproblemen. Das Nachwort „Erlebtes und Erdachtes, Kurzprosa aus einer russischen Emigrantenwelt“ ist eine glänzende Einführung in Leben, Werk und Lebenswelt des Gaito Gasdanow, von dem die deutsche Literaturwelt zu ihrem eigenen Schaden so lange nichts wusste! Mit den, Sommergewittern gleich, in unsere Literaturwelt (und unsere Russlandbilder!) hereinbrechenden Romanen „Ein Abend bei Claire“ und dem „Phantom des Alexander Wolf“, gab es schon einen unerhörten Auftritt. Das Gesamtwerk enthält auch Erzählungen vom „Russischen Montparnass“, dem Montblanc der russischen Exil-Autoren in Paris der frühen zwanziger Jahre. Iwan Bunin, Marina Zwetajewna, später Vladimir Nabokov, kamen mit einem Namen -wer kannte Gasdanow? Er hatte zwar schon ein windungsreiches Leben hinter sich – Kindsoldat bei den „Weißen“, Abiturient in Bulgarien, hingebungsvoller Student und gleichzeitig Nachttaxifahrer in Paris, den Autorentreffpunkten „Grüne Lampe“ und „Nomadenlager“ (!) zugehörig – aber: wer kannte Gasdanow? Im „Verband russischer Chauffeure“ (1200 Mitglieder) kannte man ihn gewiss, aber literarisch? Erst der „Abend mit Claire“gab ihm (1929/30) einen Namen, später mit Nabokov im gleichen Atemzug erwähnt zu werden. Rosemarie Tietze erzählt und übersetzt, erläutert und betreut seine „Schwäne“ wie Christine Körner seine „Nächtlichen Wege“, einen Roman, aus dem auch 7 bis 9 Erzählungen komponiert werden könnten. Ihre Anmerkungen sind sehr hilfreich und ihr Nachwort machte sich exzellent als Vorwort: „Die fremde Stadt in einem fernen und fremden Land. Nächtliche Wege durch die Welt des Absurden.“ Wenn es Bücher gibt, denen man nur seine Liebe erklären kann, und die „Schwarzen Schwäne“ gehören gewiss dazu, sollten doch wenige Sätze darüber hinaus laut werden. Vielleicht aus der „Genossin Brack“, einer Frau, die in der falschen Zeit lebte, aber zu den Frauen gehörte, „die imstande seinen, eine Epoche zu verkörpern,“? Vielleicht aus den „Hawaiigitarren“, wo wir uns in einem Salon wiederfinden, der einer „vielleicht dreißigjährigen Dame“gehört, bei der man nach einer Beerdigung auf morastigem und nebligen Friedhof zusammensitzt und Champagner trinkt, „um zu vergessen.“ Vielleicht aus „Hannah“, wo es mit genial warmherziger Illusionslosigkeit heißt: „Mir gehörte das allerbeste, wovon ich nur träumen konnte. Hannahs warme Haut, ihre erstaunliche Stimme, ihre zärtlichen Hände. Das war einzigartig, war grandios, hatte nur den einzigen Nachteil, dass es Realität war.“ Helmut Ruppel

Jay Howard Geller. Die Scholems. Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie

Suhrkamp und Jüdischer Verlag

Ein Familienroman? Der Titel erinnert an die Buddenbrooks, Die Brüder Karamasow, Gruppenbild mit Dame; ein Mehr-Generationen-Roman? Gershom und seine Brüder? Das Buch beginnt wie die Buddenbrooks mit einer Familienaufstellung. Aber: Der Autor Jay H. Geller ist Professor für politische Geschichte an der Universität von Cleveland, Ohio, US, und hat zuvor quellenreiche Studien über Juden in Deutschland vorgelegt. Was genau ist dieses Buch also? Eine lebhaft dramatische Familienbiographie oder eine brillant präzise Sozial- und Mentalitätsgeschichte des deutschen Judentums? Die große und beglückende Überraschung besteht in der gelingenden Zusammenfügung, in dem spannungsvollen Verweben beider Erzählstränge: Familie und Fachanalyse, der liebevollen Nachzeichnung der höchst eigenwilligen Brüder und ihrem untrennbaren Zusammenhalt, dem Bild der alles zusammenhaltenden Mutter, vor allem der Söhne mit ihrer nicht zu dämpfenden Widerborstigkeit gegenüber den Eltern und einander – da sind: ein glühend liebender Erforscher jüdischer Mystik, ein hitzköpfiger kommunistischer Reichstagsabgeordneter, der beim Familienfest zum Kaisergeburtstag „Hoch Liebknecht!“ ausruft und vom tobenden Vater, einem von Grund auf konservativen, deutschen Juden des Kaiserreiches, vor die Tür gesetzt wird, ein national-liberaler Geschäftsmann, der im australischen Exil noch in den Krieg gegen Deutschland eintreten würde und ein national-konservativer, säkular gesinntenr Bruder, der jedoch in der jüdischen Tradition beerdigt werden will – und deren Gattinnen… Dies pointiert gezeichnete Familienporträt setzt der Autor in das kulturpolitisch sorgsam ausgemalte Landschaftsbild der Jahre vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, in der fast keine Spuren mehr der Scholemschen Familiengeschichte zu finden sind – im Gegensatz zu den fast nicht mehr überschaubaren Hindenburgstraßen und Hindenburgplätzen...
Wie es Geller gelingt, diese Kapitel voller Zahlen, Ereignisse, Orte und Widerfahrnissen mit den Fäden der auseinanderstrebenden Lebensläufe zu verknüpfen, ist bewundernswert und lässt uns nur mit Herzklopfen umblättern. Angesichts der bewegenden Lebensbilder lernt man den datendichten Kontext und die genau gesetzte Zahlenfülle mühelos mit. Die Übersetzerin Ruth Keen und der Bearbeiter Erhard Stölting haben gewiss ihren Teil zum Narrativen einerseits und zum Dokumentierenden andererseits beigetragen. Die 130 gedrängten Seiten Anmerkungen sind eine vorzügliche Anleitung, mehr noch, eine verführerische Anleitung zum Geschichtsstudium in einer Stadt wie Berlin.
Geller gewinnt seine erzählerische Einfühlungskraft, Aura, Töne und Farben aus dem herzbewegenden Briefwechsel, an den wir hier noch einmal erinnern: Betty Scholem-Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel 1917-1946 und der unvergleichlichen Berliner Kindheit um 1900 von Walter Benjamin. Die Erzähl- und historische Entfaltungsmelodie kann sich dem Satz Kafkas nicht entziehen, der in genialer Verdichtung das Judentum begreift, sich begreift: „Sein bedeutet im Deutschen beides: Dasein und Ihm gehören“. Das und ist das Offenbare des Judentums: Im Dasein, in der Welt sein und Gott allein gehören. Da ist wohl der Grund des Verhasstseins, das Nie-Eingehen in eine andere nationale, politische, ideologische oder kulturelle Für-Immer-Bindung. An der Scholem-Geschichte kann man es sehen und lernen: In der Welt leben und ausschließlich Ihm gehören – mit allem Schmerz und Verfolgung und nie aufzugebender Bindung an Ihn...Geller erzählt und entrollt historisch ein weiteres Mal diese Lektion, Zeile für Zeile.

„1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ - gegenwärtig wird es mehr beschworen als erinnert. Dieses Buch nimmt es im buchstäblichen Sinne wahr. Helmut Ruppel

463 Seiten
€ 25

Benjamin Ferencz. Sag immer deine Wahrheit. Was mich 100 Jahre Leben gelehrt haben

Heyne Verlag

"9 Lessons for a Remarkable Life", der originale Titel macht es einerseits noch hörbarer, das bemerkenswerte Leben, das Ferencz keineswegs trumphaft meint, sondern mit viel Ironie und Schalk, während der deutsche Titel Sag immer deine Wahrheit ihn, Ferencz, treffend zur Sprache bringt. Unter den Hundertjährigen, die gegenwärtig die literarische Welt bevölkern, ist er derjenige, der am meisten erlebt und zu erzählen hat, lebhaft, liebenswert schnoddrig und in weiser Weise hilfsbereit – ein 160 Seiten starkes wohltuendes Schmerz- und Stärkungsmittel, dreimal am Tag 5 große Esslöffel, ohne Cortison, pardon, 20 Seiten täglich, bei umwerfend bester Laune und sehr ernst – eine Mischung, zu der man wohl 100 Jahre braucht. Als Kind muss er schon so gewesen sein. Von wem ist die Rede?
Der Einwanderungsbeamte auf Ellis Island fragte die Eltern, nach einem Blick in das Babykörbchen, „Name?“ Die Eltern konnten nur Rumänisch und Jiddisch und sagten Berell. Der Beamte verstand Bella, blickte wieder ins Körbchen und entschied „4 Monate“. So wanderte Benjamin Ferencz unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in die Vereinigten Staaten ein als vier Monate altes Mädchen. Das erfuhr er durch Zufall an seinem 84. Geburtstag.
Da hatte er schon einiges Bemerkenswertes getan für sein Land? Ja, auch, mehr aber für die Menschlichkeit allerorten, vor allem aber als Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen bis zur Gründung des internationalen Strafgerichtshofs. Die Kapitelüberschriften reihen Köstlichkeiten aneinander: Die Augen offen, die Hände am Steuer (Schlusskapitel! Er ist Hundert!), Über die Wahrheit – sprich sie aus, auch wenn niemand zuhört, Man muss nicht mit dem Strom schwimmen, Der Weg ist immer steinig und führt niemals geradeaus, Es gibt Wichtigeres, als die Welt zu retten. Ferencz lebte, handelte, schrieb und prozessierte nach einem Prinzip: Wenn es um Menschlichkeit geht, gib es kein Wenn und Aber. Es durchzieht das Buch des Hundertjährigen wie ein Wärmestrom: Wie heilt man ein gebrochenes Herz? Diese Frage ähnelt der nach einer friedlichen Welt. Es gibt auf beide eine 10 Bände umfassende Antwort und eine, die nur aus einem Wort besteht: langsam. So erzählt er dahin: klug, warmherzig, erfahren und freundlich. Über seine Frau sagt er: "Dass ich ihre Zuneigung gewonnen habe, betrachte ich als meinen wichtigsten Sieg". Wir verdanken auch ihr dieses Buch! In Stunden der Einsamkeit, der Resignation und der Enttäuschungen zu Ferencz greifen, denn er kann einen Rat geben! "Die besten Eigenschaften, die ein Mensch haben kann, sind Redlichkeit, Warmherzigkeit und Toleranz. Tu niemals etwas, für das du dich schämst!"
Helmut Ruppel

160 Seiten
17€

Mit den Augen von Zeitgenossen: Erinnerungen an PAUL CELAN. Herausgegeben von Petro Rychlo

Suhrkamp Verlag

Von den Spielgefährten aus der Nachbarschaft in Czernowitz bis zu den Zeitgenossen, die von seinem Tod erfahren, versammelt Rychlo 55 Stimmen (!) aus den Phasen und von den Orten seines Lebens, darunter ein Bericht über seinen Berlin-Aufenthalt im Dezember 1967, zu dem, wie Marlies Janz sich erinnert, „eine Fahrt durch das verschneite Dahlem über Grunewald und Halensee und hinunter (!) zum Savignyplatz“ gehörte. Eine Lesung in der vollbesetzten Akademie der Künste konnte ich besuchen, erinnere mich aber an kein Gedicht, nur an den schmalen, gebeugten Mann, der mit einer schmalen Aktentasche die Stufen zur Bühne etwas mühsam hinaufstieg und dann mit einer halb singenden Stimme zu lesen begann.
Es sind die Lebensorte Czernowitz, Bukarest, Wien und Paris, die Celans Leben prägten, unter denen Czernowitz in den sechziger Jahren fast eine mythische Bedeutung hatte; vom Bukarester literarischen Leben wusste man nichts – diese Orte und ihre Büchermenschen zu erschließen, kommt für uns der Entdeckung literarischer Provinz gleich. Jacques Derrida, Paris, und Ilana Shmueli, Jerusalem, sollten hervorgehoben werden, was gegenüber allen anderen Stimmen ungerecht ist, pardon, doch ist ihr Blick auf Celan, seine Sprache und seine Bilderheimat unvergleichlich eindringlich. Rychlo fügt einen hundertseitigen Kommentar hinzu, sein unverwechselbares Celan-Bild, geprägt vom lebenslangem Wohnen in Celans Werk und an seinem ersten Ort. Helmut Ruppel

469 Seiten
28€

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