Bücherbriefe

Michel Bergmann. Mameleben oder das gestohlene Glück
Diogenes Verlag
Selbst Kees van Dongens „Maria“ auf dem Titelumschlag zeigt eine herrscherlich machtbewusste Frau, durchsetzungsbereit und gebieterisch – einfach stark, großartig und erdrückend.
Michel Bergmann rechnet mit ihr ab, dieser unerträglichen Mutter mit ihrer „toxischen Liebe, der Ursache für dieses Buch.“ Eine kluge Leserin hat geschrieben: „Zwischen Selbsttherapie und Kaddisch“ - so ist es! Er liebt sie ja, so wie sie dies fürchterliche Leben im Internierungslager (mit Marta Feuchtwanger und Hannah Arendt) übersteht, fliehen kann und bald „nicht mehr Herrin über ihr Schicksal ist“. Sie heiratet, wird rigorose Geschäftsfrau - „Sie haben mich lang genug getreten, jetzt trete ich“ - , perfekt, kaltschnäuzig, unbeliebt. Und der kleine Michel? 1945 geboren, wird er von den Eltern in die Obhut von Nonnen gegeben, sie ziehen nach Paris, später wird er nachgeholt, sie ziehen nach Frankfurt, dort haben Juden einen „kommerziellen Vorsprung“. Eine Familie wird es nicht, seine Mutter wirft ihm vor, er sei zu klein, zu pummelig, zu unsportlich, zu unauffällig. Ach, es ist schmerzlich zu lesen, wie er mit ihr abrechnet. Er fragt sich, ob ihr Leben ohne die Erfahrungen der Naziwelt ein gutes Leben gewesen wäre. Selbsttherapie und Kaddisch – Befreiung von ihrer atemabdrückenden Dominanz und tiefempfundenes Totengebet voll Liebe und Zuneigung in einem Text? Doch, es ist möglich! Die Trotzkraft seiner Liebe kann im Epilog schreiben: „Es umarmt dich mit unendlicher Liebe und Traurigkeit Dein Sohn.“ Das Buch überschreitet so unbarmherzig-barmherzig eine Grenze, dass man es „fassungslos“ aus der Hand legt – zum Weitergeben … Der Verlag schenkt zwei gute Zutaten: ein langes Glossar zu den jiddischen Begriffen und auf der Schlussseite „A jiddische Mame“, von Yellen und Pollack, 1925.
Helmut Ruppel
256 Seiten
25.00 €

Adriana Altaras. Besser allein als in schlechter Gesellschaft. Meine eigensinnige Tante
Kiepenheuer & Witsch Verlag
Bei allem Nachfragen in Freundschaft und Verwandtschaft - „eigensinnig“ kam sehr schlecht weg!
Es wohnte nahe bei „schwierig“, „komplex“, fast „unsozial“, eben „trotzig“ - dabei ist Tante Jele, die 99jährig in einem Altersheim bei Mantua lebt und mit der die 60jährige auch vom Leben geplagte Autorin in Berlin so oft aufs Lebhafteste telefoniert, um alle Klippen, Fallen, Nöte, Beschwerden und Glücksfälle zu bereden, eine so aufsässig-unverwüstliche, so schrill wie weise Dame, mit eigenem Sinn, dass man nicht ablassen kann, ihr zuzuhören. Warum sie nicht nach Deutschland zieht, wo doch ihre Nichte ihr näher ist und sie umsorgen könnte? Das jüdische Altersheim ist ihr zu russisch, im deutschen Heim fehlen ihr die Juden, und kochen tun alle schlechter als die Italiener! Sie ist eben - eigensinnig. Deshalb: Meglio soli, che male accompagnati! Adriana Altaras Eltern werden in ihrer Heimatstadt Zagreb antisemitisch verleumdet und aus der jugoslawischen KP verdrängt, fliehen nach Italien und von dort nach Deutschland. Die vierjährige Adriana wird von ihrer kinderlosen Tante über die Grenze geschmuggelt, bleibt zunächst bei ihr und wechselt erst später nach Deutschland, wo ihre Eltern die Jüdische Gemeinde Gießen gegründet haben. Aber diese Jahre mit der eigensinnigen Tante, die die Spanische Grippe, die Shoah, das KZ und eine norditalienisch-katholische Schwiegermutter eigensinnig überlebt, sind die prägenden Jahre ihres Lebens: „Sie musste mich nicht erziehen, denn sie war nicht meine Mutter. Ich musste ihr nicht widersprechen, denn sie war nicht meine Mutter!“. Zu ihr wird sie immer wieder zurückkehren, sie, Schauspielerin, Regisseurin, Autorin, mit ihr die Übel des Lebens und der Welt austauschen. Und daraus ist ein Buch geworden, ohne jegliche Erzählstruktur, aber in der Bauart von „Schnitt und Gegenschnitt“, einmal erzählt die Nichte, einmal die Tante. Es ist in meiner Lese-Erfahrung das mündlichste Buch, das ich kenne, als habe sie an ihren erzählenden Bewusstseinsstrom einen Schreibcomputer angeschlossen. Sollte man die These ausrufen: „Besser mit einem Buch allein, als in schlechter Gesellschaft!“ Es ist im höchsten Maße erstaunlich, wie ein ganzes Jahrhundert im Schlagabtausch von Klage, Trost, Widerspruch, Anfrage, Verhör, Bekenntnis, Lob, Kummer und Aufatmen zweier Menschen vor Ohren und Augen entsteht – nicht zu vergessen, mit einer Reihe nachdenklicher Witze. Eine Frau geht zum Rabbiner. „Rabbi, ich habe den Wunsch, ewig zu leben.“ „Heirate“, sagt der Rabbbiner. „Und werde ich dann ewig leben?“ „Nein, aber der Wunsch wird vergehen.“
Die Bibel kennt nicht das Wort „Schicksal“, bis zum letzten Atemzug ist nichts entschieden, „Schicksal“? Die Bibel kennt „Stärke des Herzens“, Aufrichten nach dem Schlag, Wege finden, sich nicht als Opfer verstehen, innere Robustheit, im Rückblick das Leben neu deuten, an Träumen festhalten, Trotzkraft – davon erzählt das Buch. Und es endet jüdisch: „Alles ist gut. Ich verzeihe dir, G'tt.“ Helmut Ruppel
224 Seiten
22.00 €

Dorothee König. „Du wirst noch an mich denken“ Liebeserklärung an eine schwierige Mutter
dtv Verlag, München
Die „schwierige“ Mutter der Erzählerin ist Barbara von Dohnanyi; sie ist Tochter von Christine und Hans von Dohnanyi; Christine ist die Schwester Dietrich Bonhoeffers, der mit seinen „Grunewald-Gefährten“ Hans von Dohnanyi, Gerhard Leibholz, Justus Delbrück und seinem Bruder Klaus in dunklen Zeiten für das gute Deutschland stand. Sie waren Freunde im konspirativen Widerstand gegen Hitler und den deutschen Unrechtsstaat. Anders als bei Altaras und Bergmann geht es um eine hochgespannte Familiengeschichte, um Generationen. Dankenswerterweise gibt es dazu am Buchende einen Überblick über einige Personen. Geht es aber um Generationen, geht es um den Anspruch der Deutungsmacht, die Aufrechterhaltung und Weitergabe sozialer Formen („Nein, der Pfarrer wird euch nicht konfirmieren!“), in die sich oft Züge von Überheblichkeit einnisten können, wenn es um die gesellschaftlichen Zusammenhänge geht, wenn jemand dem „geistigen Anspruch nicht genügt.“ Davon gibt es im Buch bedrückende Beispiele. Erziehung wird zur planmäßigen Sozialisation in die eigene Generationenfolge. Das große Wirkungserlebnis im Generationenzusammenhang ist der „Widerstand“ - die Mutter der Erzählerin musste als 16jährige die Verhaftung ihrer Eltern mitansehen und mit 18 Jahren die Hinrichtung ihres Vaters verarbeiten. Dazu sagt man heute „Trauma“ - doch welche Gestalt nimmt ein solches Trauma im Leben der nächsten Generation an? Was bewirken weitergegebene Traumata? „Du wirst noch an mich denken“, der Untertitel des Buches ist vieldeutig: „Einmal wirst du mich verstehen!“, „Einmal wirst du deine heutige Sicht ändern!“, „Werde erst einmal so alt wie ich!“, „Was wisst ihr denn über mein Leben!“ Die Abgrenzungen zu nachfolgenden Generationen sind immer schmerzlich. Aber die Enkelin der ethisch-politisch hochaufragenden Großeltern will von dieser Bedeutsamkeit nicht erdrückt werden! Von der Unnahbarkeit, der Emotionsferne, den fühlbaren Distanzen, nicht im eigenen Leben behindert werden. „Über Gefühle zu sprechen war verpönt!“, resümiert sie bitter. Ob sich hier ein Spalt auftut zu höchst unterschiedlichen emotionalen Identitäten im jüdischen und protestantischen Lebensverständnis? Zwischen der „unbekümmert-eigensinnigen Tante und der verschlossen-schwierigen Mutter“? „Ich wollte meine Mutter besser verstehen!“, lautet ihr leitendes Motiv zum Buch. Diese konfliktreiche „Liebeserklärung an eine schwierige Mutter“ kann durchaus zu einem Identifikationsbuch der „Nachgeborenen“ werden. Haben das andere Kinder auch erlebt? Dorothee Röhrig erzählt im Interview vom „Muttertag“: „Ich erinnere mich gut an die gelben Gartenstühle, um die wir Ketten aus Gänseblümchen drapierten, weil wir in der Schule erfahren hatten, dass man das zum Muttertag so macht.Wir waren so stolz! Und dann diese Abfuhr: „Wisst ihr, Muttertag gab es bei den Nazis“, hörten wir, „Der wird bei uns nicht gefeiert.“ Bei „uns“ gab es keinen Petticoat, keine lackierten Nägel, nicht den kleinsten Knutschfleck … Ach, wären es nur diese Kleinigkeiten … Aber es gab immer den 5. April, an dem 1945 die Großelten verhaftet wurden und sich zum letzten Mal sahen, an dem der Großonkel Dietrich Bonhoeffer von der Gestapo im Haus seiner Eltern im Eichkamp abgeholt wurde, es gab den 9. April, an dem der Großvater erhängt und der Großenkel im KZ Flossenbürg ermordet wurde ...
Ein Buch der erarbeiteten Versöhnung der Generationen. Erstaunlich, nach 1945 hatten nicht die Jungen, sondern die Alten ihre Chance, ob sie Adenauer oder, nicht ganz so alt, Ulbricht hießen, Angehörige der Weimarer Generation. Sie musste verantwortet werden, im Großen wie im Familiären, zum Beispiel zwischen Müttern, Tanten und Töchtern ...
Helmut Ruppel
254 Seiten
24.00 €

Gunilla Palmstierna-Weiss. Eine europäische Frau
Aus dem Schwedischen von Jana Hellberg
Verbrecher Verlag
„Europäisch“ ist ihr Leben von Anfang an: In Lausanne geboren (1928), aufgewachsen unter anhaltender Verfolgung in Schweden, Deutschland und Holland, später führten Reisen und Arbeitsaufenthalte nach Frankreich und Italien, darüber hinaus nach Nordvietnam, Mexiko, Kuba und in die USA. Wir hören und erleben eine Frau mit dem unbedingten Willen zur künstlerischen Praxis; ihre Heirat mit dem Autor Peter Weiss führt sie in eine Arbeitsehe, die ihr weitere ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. Ich kenne nicht den Stand der Brecht-Forschung, was den Anteil vieler Gefährtinnen an seinem Werk betrifft, der Anteil Gunilla Palmstiernas an Weiss' dramatischem Werk ist gänzlich unerforscht, wobei die Keramikerin, Bühnenbildnerin, Maskenbildnerin, Malerin und Autorin viel Sichtbares (rund 80 Seiten Bilder im Buch!) beigetragen hat, so wie sie es zu Ingmar Bergmanns, Agnes Vardas und vielen anderen Arbeiten auch getan hat. Die FAZ eröffnet ihren Nachruf quasi offenen Mundes, so hat die 880-Personen-Liste am Buchausgang verblüfft. Das heißt aber nicht, der Respekt wäre ihr für Arbeit gezollt worden: Die Berliner Schaubühne nennt im Programmheft zu Weiss' Sade/Marat nicht ihren Namen (das Direktorium soll gerührt gelächelt haben), der Suhrkamp-Chef Unseld ließ bei einem vom Ehepaar gemeinsam verfassten Buch ihren Namen einfach weg. Es ist schlechterdings unfassbar, was man sich ihr gegenüber (nur ihr?) an Demütigungen, an Nichtanerkennung geleistet hat. Vor uns liegt nicht das Buch einer Autorenwitwe! Es ist die Lebensgeschichte einer vielseitigen Künstlerin, die mit den Größten ihrer Zeit weltweit zusammengearbeitet hat, die mit ihrer emotionalen Intelligenz und ihrer bewundernswert politisch-feministischen Trotzkraft ein Porträt des Zivilisationsbruches in Europa erzählt, lakonisch-heiter und empathisch zugleich, wenn sie von den geriebenen Möhren erzählt, die ihr Samuel Becketts Frau in Paris liebevoll angeboten hat … Wollte man im Stil sowjetischer Panorama-Bilder (Tübkes Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen!) ein Europa-Panorama herstellen, sie wäre die Erste, die hätte gebeten werden können. Sie ist im Alter von 94 Jahren im Herbst 2022 in Stockholm gestorben. Stockholm? Angesichts des Wahlsieges der rechtsnationalen „Schwedendemokraten“ (was die Sprache an Perversionen zulässt ...) war sie nicht sicher, ob denn Schweden noch ihre Heimat sei … Von der Rosa-Luxemburg-Stiftung bis zur FAZ, vom ND bis zur SZ standen alle auf, als sie gestorben war, und zogen den Hut – es galt, sich vor einer „Europäischen Frau“ zu verneigen. Das kann man nun mit der Wahrnehmung ihres großen, dem Wortsinn gerecht werdenden „Bildungsromans“ tun. Ein Buch wie ein Stein. Ein Gedenkstein. Helmut Ruppel
600 Seiten
39.00 €

Marta Kijowska Nichts kommt zweimal vor. Wisława Szymborska. Eine Biographie
Schöffling Verlag
„Es hätte besser sein sollen als die vergangenen, unser 20. Jahrhundert (…) Zu viel ist geschehen, was nicht hat geschehen sollen, und was hat kommen sollen, kam leider nicht. (…) Die Angst hatte Berge und Täler verlassen sollen. Die Wahrheit hat schneller am Ziel sein sollen als alle Lügen.
Einige Unglücksfälle sollten nicht mehr geschehen, zum Beispiel Krieg, Hunger und so. Die Wehrlosigkeit der Wehrlosen, das Vertrauen und so weiter, sollten Achtung genießen. Die Dummheit ist gar nicht zum Lachen, die Klugheit ist gar nicht lustig. Die Hoffnung ist nicht mehr das kleine Mädchen et cetera, cetera, leider. Gott sollte endlich glauben dürfen an einen Menschen, der gut ist und stark, aber der Gute und Starke sind immer noch zweierlei Menschen. Wie leben? - fragte im Brief mich jemand, den ich dasselbe hab’ fragen wollen. Weiter und so wie immer (…) es gibt keine Fragen, die dringlicher wären als die naiven.“
Eine Reihe von Theologen wurde gebeten, Gedichte zu interpretieren; Wolfgang Huber, früherer Bischof in Berlin, wählte das Gedicht der Wisława Szymborska, von dem oben einige Zeilen gedruckt sind. Vertrackt lakonisch, zutiefst empathisch, untertönig humorvoll, unaufgeregt pathetisch, lächelnd weise, wie nebenbei die Hauptsache im Blick, zurückgenommene Avantgarde. Seit langem fühle ich mich diesem Stil fast freundschaftlich, ja geradezu körperlich nahe verbunden. 1963 kam ich zum Studium nach Berlin, nahm an Polen-Reisen teil und veröffentlichte „Lektion der Stille – polnische Literatur der Gegenwart“ (Kommunität, Vierteljahreshefte der Ev. Akademie Berlin, Oktober 1963) – das war vor 60 Jahren! Die Verbundenheit mit vielen Stimmen, die in der Biographie der Szymborska sorgfältig und stimmenreich von Marta Kijowska zusammengetragen sind, trägt bis heute, darunter Slawomir Mrożek, Stanislaw Jerzy Lec und dem großen Brückenbauer, Karl Dedecius. Er und Mrożek haben Autobiographien verfasst, aus denen Frau Kijowska ausgiebig schöpft, zum Besten des Lebensbildes der lyrischen Stimme Polens, Wisława Szymborska.
Ob ich heute noch von der „martyrologischen Literatur Polens“ schreiben sollte wie 1963, als jede Polenreise mit Gedenkstättenbesuchen verflochten war? Auch die Biographie Szymborskas, die lebenslang in Krakau mit den nahen Lagern lebte, ist gezeichnet von dieser Sprache des Schmerzes unter den jeweiligen Machtallüren der Nazis oder Sowjets, der Parteidummheit und der ideologischen Gewaltlust. Zwar erscheint die Kulturgeschichte Polens ausschließlich im Brennglas Krakaus, auch die Autorin ist Krakauerin, aber das ist vollkommen angemessen, hat doch die Krakauer Szene samt der Jagiellonen-Universität und der Wawel-Kunstschätze einen intellektuell-künstlerischen Reiz wie keine andere Stadt. Das Leben der Nobelpreisträgerin ist dicht verwoben in die literarische Welt der Stadt, ihrer Zeitschriften und Theater (Stanislaw Lem!), Jugendstil-Cafés, malerischen Märkte und dem jüdischen Viertel Kasimierz. Die quecksilbrig unfassbare Szymborska mit ihren betörenden Versen, ihren verwunderlichen Zuneigungen („Der liebe Onkel Thomas“ auf dem Zauberberg, der als tief verwandt empfundene Woody Allen, die als Nicht-Trauerfeier-Sängerin ersehnte Ella Fitzgerald, der sie immer erneut zum Grübeln bringende Jan Vermeer) gleitet unnahbar und schwesterlich verbunden durch das Buch, dass man am Ende in der Welt Krakaus atmet und Mühe hat, nach Dahlem zurückzufinden. „Das Ende des Jahrhunderts“ ist nicht das Ende der Zeit, leise lakonische Ironie und die Trotzkraft nicht stilllegbarer Hoffnung gehören zum kostbaren Erbe der Wisława Szymborka an uns. Danke!
Wolfgang Hubers Interpretation findet man in: „Ein Wort - ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, Theologen interpretieren Gedichte, herausgegeben von Heike Krötke, Calwer Verlag, Stuttgart 1998, S. 88-94
Das vollständige Gedicht ist abgedruckt in Wisława Szymborska, Hundert Freuden, Suhrkamp 1996, S. 35f.
Helmut Ruppel
320 Seiten
28€

Hans Magnus Enzensberger. Leichte Gedichte
In Bilder gesetzt von Jan Peter Tripp
Insel Verlag
Enzensberger starb am 24.11.2022, die Berichte über seine unnachahmlich-heitere „Trauer-Feier“ haben viele Menschen erfreut. Verzeihlich also, wenn die lesende Freundschaft häufig statt „Leichte“, „Letzte“ Gedichte gelesen hat. Vielleicht sind sie es ja. Sie sind am 23. März, ein gutes Vierteljahr nach seinem Tode erschienen. Hat er sie selbst (noch) zusammengestellt? Der Verlag sagt nichts … auch nichts zu Jan Peter Tripp. Vorwort, Nachwort wären freundlich gewesen. Die Gedichte sind in ihrer weisheitlich-knittelnden Eleganz, ihrer poetischen Seel-Sorge, ihrer unernsten Larmoyanz der Nächstenliebe, ihrer sorglos zerknitterten Klugheit einfach nur eins: liebenswert, leicht und exzellent dazu.Er ist Jahrgang 1929, ein schönes Alter für leichte und letzte Gedichte. Was man nicht vergessen sollte: Er flog aus der Hitler-Jugend, weil er ein „Querulant“ war und darüber hinaus trotzig. Für heute ein kurzer Abschied: „Schwamm drüber. Wenn das alles ist, was du auf dem Herzen hast – na wenn schon! Im Bad findest du einen Schwamm. Sogar die Mathematiker greifen zu ihm und zur Kreide vor der Tafel mit ihren Gleichungen und löschen alles, was sie stört, weil es voller Fehler ist.“
Mit der Publikationen „Transatlantik“, „Museum der modernen Poesie“ und vor allem dem „Kursbuch“ geradezu programmatisch zur Wahrnehmung weltweiter Literatur auffordernd (und ermöglichend!), überschritt er die Grenzen der bundesrepublikanischen „Heimat“, arbeitete sich nicht ab in den Provinzen des Herkommens. Ein Dublin wie Joyce, ein Yoknapatawpha wie Faulkner, ein Danzig wie Grass, ein Lübeck wie Mann, ein New York wie Dos Passos, ein Alexanderplatz wie Döblin hatte Enzensberger nicht, „Heimat“, in welchem Sinne auch immer, hatte er nicht.
Helmut Ruppel
88 Seiten
14.00 €

Andreas Maier. Die Heimat
Suhrkamp Verlag
In meiner Schulzeit hieß das Fach „Heimatkunde“, heute heißt es „Sachkunde“, und damit ist das Problem benannt. Das Problem „Heimat“ - anheimelnd wie fürchterlich. Die Heimat des Autors ist die Wetterau, gesprochen „Wetter-au !“… Klingt das nach Schmerz oder nach Freude ? „Was oder wo ist die Wetterau?“, fragt der Nichthesse. „Irgendwie nördlich von Frankfurt“ - wo ist das denn?
In Berlin leben viele Menschen, die hierher gekommen sind, weil sie nicht länger „irgendwie nördlich von ...“ leben wollten. Für viele Lesende in Berlin kann „Die Heimat“ das große Buch des Erinnerns, der aufdämmernden Vergegenwärtigung, der vielleicht seufzend-aufatmenden, der vielleicht heiteren Rekonstruktion der eigenen frühen Lebensgeschichte werden. „Was hat mich hierher gebracht?“ „Von wo bin ich denn gekommen? Ein glänzend gelungenes Zwischen-Bilanz-Buch – selbst wenn die neue Adresse in Berlin-Süd „Heimat“ heißt … Und wie nebenbei kann es eine höchst eigene 40jährige Mentalitätsgeschichte „BRD“ im eigenen Kopf in Gang setzen. Da kommt einer aus Ostfriesland und eine aus Sachsen, schlägt das Buch auf und sinnt darüber nach, wie war das in Aurich oder in Markkleeberg? Andreas Maier arbeitet an einem auf zehn Bände angelegten Zyklus mit dem Klage-Titel „Ortsumgehung“. Klage? Ja, früher baute man Wege und Straßen von Ort zu Ort, heute baut man „Ortsumgehungsstraßen“. Und ebenso hat er bisher acht Bände Umgehungsarbeit vorgelegt: „Das Zimmer“, „Das Haus“, „Die Straße“, „Der Ort“, „Der Kreis“, „Die Universität“, „Die Familie“ und „Die Städte“, nun: „Die Heimat“. Dieser Band ist Edgar Reitz gewidmet, der das 60stündige Filmepos „Heimat“ geschaffen hat; gleichermaßen zu empfehlen für lange früh dunkelnde Herbsttage … Maier umgeht letzten Endes doch die Örtlichkeit, er teilt das Buch in Jahrzehnte: Die Siebziger, die Achtziger, die Neunziger und die Nuller-Erfahrungen, Essays und notierte Schocks bilden den Text.Da gibt es völlig neu die Fremden, die Türken, die Russland-Deutschen, da gibt es plötzlich die NPD im Rathaus, da gibt es Fests „Hitler“-Film, ein Film wird gezeigt, in dem Menschen in einen kahlen Raum geführt werden und plötzlich Gas eingelassen wird, da kommen die Ostdeutschen und eine Fahrt nach Meißen ist möglich, und so ruckeln die Jahre in Fernsehbildern dahin. Alles hat uns geprägt und unendlich viel mehr, auch Unsagbares und Unsägliches. Im Epilog trifft der Autor auf Straßenarbeiter, die seine Fragen nicht verstehen, weil sie arbeiten müssen an der Umgehungsstraße: „Also machen wir weiter, kommt, Jungs! Mal was arbeiten!“ Es geht immer weiter, Altes wird umgangen ... Es gibt moderne Versionen vom alten „Lesekränzchen“ - da gehört das Buch hin, in den erinnerungslösenden Austausch der eigenen Biographien: So haben wir gelebt! „Sprich, Erinnerung, sprich“, nannte Nabokov seine Erinnerungen. „Rede, Erinnerung, rede!“, Andreas Maier zeigt schon einmal wie das gehen könnte. Mit den Seiten entwickelt sich der Band zu einem Spiegel der eigenen Erinnerungen – spart teure Honorare für langes Liegen auf der Couch und beschert Wehmut, vorübergehenden Schrecken, lächelndes Kopfschütteln und literarisches Vergnügen! So erstaunlich wie nutzbringend! Helmut Ruppel
245 Seiten
22€

Cornelius Bormann. Die Grunewald-Gefährten. Freunde im Widerstand gegen Hitler
Osburg Verlag
Hans von Dohnanyi, Klaus und Dietrich Bonhoeffer, Justus Delbrück, Gerhard Leibholz
Das „Familiennetz der Grunewaldfamilien“, die Straßenverzeichnisse, einzelne Häuser, das Grunewald-Gymnasium, hätte der Verlag auch an den Anfang setzen können, denn es ist ein stimmenreicher Handlungsort, kein „Tatort“, aber eine aktive, lebhafte Lebens- und Gedankenlandschaft, ein kleiner Kulturstaat, der auch heute zur Begegnung auffordert, gewiss aufschlussreicher als die Reichstagskuppel, am besten mit dem gut bebilderten Band in der Hand, der auch heißen könnte „Von Heidi und Cornelius Bormann“, folgt man der Danksagung.
Genug des Krittelns – das Buch sammelt viel ein, beginnend mit einem Bild: Grunewald um 1900 und einer Portraitleiste der fünf Freunde – großes Lob der Umschlaggestaltung - so ein historisch ausgerichtetes Buch benötigt Neugierreize. Ja, es ist ein besonders berlinisches Buch, denn mit Max Planck und Walther Rathenau, Alfred Kerr, Samuel Fischer, Max Reinhardt und Walter Benjamin, Helene Lange und Gertrud Bäumer und vielen anderen sind einige hierher gezogen, die in Berlin etwas bewegten, doch das interessiert den Autor weniger; es sind diese fünf Freunde, die mit dem Erbe der Aufklärung, dem „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ plötzlich Ernst machen mussten und wollten. Zu ihnen gehörten die Schwestern Christine von Dohnanyi (deren Tochter manchmal – in welcher Tonlage? - zu wiederum ihrer Tochter sagte: „Du wirst noch an mich denken!“), weiterhin Sabine Leibholz und Ursula Schleicher (alle drei „geb. Bonhoeffer“), auch Emmi Bonhoeffer und Ellen Delbrück. Die Freunde waren ohne Schwestern und Ehefrauen nicht zu denken. Ihnen allen ging es nicht um den „Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen!“ Das taten sie, und vier der Männer bezahlten es 1945 mit ihrem Leben. Bormann flicht nicht aus fünf Biographien einen Strauß „Widerstand“, er webt an einem Geschichtsbild, das heute aufzuhängen wäre im Reichstag, in der Paulskirche, in jeder Universität. Viele originale Texte - „Nach zehn Jahren“ von Dietrich Bonhoeffer, „Meine lieben Kinder“ von Klaus Bonhoeffer -hält das Buch fest. Immer wieder öffnet es Seitenausgänge, nimmt Exkursionen hinzu, lässt die historischen Kontexte mitströmen, hält viele „sprechende“ Bilder bereit. Mit Enzensberger gesprochen, gehörte das Buch ins „Lesebuch für die Oberstufe“. In einer Zeit, die den „Mut zur Mündigkeit“ dringend benötigt, kann es zu einem personalen Katechismus des Widerstands werden. Helmut Ruppel
550 Seiten
26€

Uwe Neumahr. Das Schloss der Schriftsteller. Nürnberg '46 – Treffen am Abgrund
C.H. Beck Verlag
Das „Press-Camp“ wurde beengt im Schloss eines deutschen Schreibwaren-Unternehmers eingerichtet: Feldbetten, ein lärmiger Arbeitssaal, grässliche Toiletten – unzumutbar, aber einmalig, denn: Wer kam zusammen? Erika Mann, Elsa Triolet, Martha Gellhorn, Rebecca West und Janet Flanner, um die scharfäugigsten und kritischsten Autorinnen zu nennen, denen oft das Wort „Deutschland – unheilbar!“ über die Lippen kam. Da schrieben auch Willy Brandt, Wolfgang Hildesheimer, Markus Wolf, Alfred Döblin, Peter de Mendelssohn, um die Deutschen aus dem Exil zu nennen, weiterhin Ernest Hemingway, John Dos Passos, Ilja Ehrenburg und viele andere. Es sind Porträts vor dem Hintergrund des sich dahinziehenden Prozesses mit seinen unerträglichen Angeklagten Göring, Frank, Streicher, Jodl, Speer, Heß und den anderen. Mit Erich Kästner und Golo Mann und der „Gastgeberin“ Gräfin Katharina Castell geht der Autor erstaunlich kritisch „ins Gericht“. Es ist ein aufklärendes, zurechtrückendes Buch über einige Heroen der publizierenden Zeitgeschichte. Mag sein, dass pittoreske Details über die Affäre von Rebecca West mit einem Richter dem Lektor unnötig wichtig waren und Hemingways Umgang mit Martha Gellhorn auch hätten wegbleiben können, der schockierend vertraute Umgang von Gräfin Castell mit Gestapo-Chef Diels um des Skandals willen ins Buch kam – es ist ein aufschlussreiches Buch voller Aufhellungen und neu ausgeleuchteter zeitgeschichtlicher Augenblicke.
Helmut Ruppel
304 Seiten
26.00 €

Warlam Scharlamow
Franziska Thun-Hohenstein
Das Leben schreiben. Warlam Schalamow. Biographie und Politik
Matthes & Seitz, Berlin 2022, 536 S., 38.00 €
Warlam Schalamow
Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma I
Matthes & Seitz, Berlin 2016, 342 S., 22.00 €. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Franziska Thun-Hohenstein
Schalamows Leben – ein unerträgliches Leben in einer unbeschreiblichen Welt: Die Lagerhaft 1929–1931 und 1937–1951 ist schier unvorstellbar. Und er hat sich nicht brechen lassen. Und er hat sich nicht zum Opfer werden lassen. Und so hungrig nach Gerechtigkeit fing er an, als alles hinter ihm lag (nichts lag hinter ihm!), zu erzählen und Geschichten zu schreiben und nicht zu wissen, wer es denn wissen wollte. Da gab es die zermürbenden Zerwürfnisse und die wenigen stärkenden Freundschaften, vor allem immer wieder herzbewegend die Nähe zu Nadeshda Mandelstam!
Boris Pasternak war das Idol, doch Alexander Solshenizyn eine Belastung seiner Seele. Die deutlichen Zeichen einer Restalinisierung im gegenwärtigen Russland und der damit einhergehenden Tabuisierung der Erinnerung – die Liquidierung von Memorial ist einfach fürchterlich! - lassen einen den Atem anhalten beim Lesen von Frau Thun-Hohensteins großem und mutigem Versuch, „das Lager zu erzählen“. Ihre Studien im Lande selbst wären heute reine Illusion. Das macht die Quellenfrage noch quälender, denn es steht noch dahin, wie viel wir wissen. Im Nachwort zu den „Erzählungen aus Kolyma I“ führt Thun-Hohenstein in Schalamows Leben und Werk ein und gibt ihm das Schlusswort: „Warum das Lagerthema? Das Lagerthema … ist die größte, die Kernfrage unserer Epoche. Ist denn die Vernichtung des Menschen mit Hilfe des Staates nicht die Kernfrage unserer Zeit, unserer Moral, die in der psychologischen Verfassung jeder Familie Spuren hinterlassen hat?“
Der Verlag hat dankenswerterweise Bildseiten und Glossare hinzugefügt, um einen ersten Schritt und einen ersten Blick in die Welt des Warlam Schalamow und der Lager zu eröffnen. Helmut Ruppel

Joshua Cohen & Barrie Kosky
Barrie Kosky mit Rainer Simon
„Und Vorhang auf, Hallo!“ - ein Leben mit Salome, Mariza,Miss Piggy & Co
Insel Verlag, 251 Seiten, 26.00 €, mit vielen Abbildungen.
Joshua Cohen, Die Netanjahus oder vielmehr der Bericht über ein nebensächliches und letztlich unbedeutendes Ereignis in der Geschichte einer sehr berühmten Familie
Schöffling Verlag, 288 Seiten, 25.00 €. Aus dem Englischen von Ingo Herzke.
Die New York Times meinte, sie habe seit Ewigkeiten keinen so urkomischen und wichtigen Roman mehr gelesen wie das Buch von Cohen. So ist also der Pulitzerpreis 2022 nicht per Würfel zustande gekommen. Um es gleich zu sagen: Familie Netanjahu kommt zum Übernachten beim Erzähler an, und der mittlere von drei Knaben wurde später Ministerpräsident von Israel. Er, mit dem gegenwärtig nicht so viel Urkomisches einhergeht, ist die Hauptperson. Mehr soll hier nicht verraten werden; ich kenne Menschen, die vor Lachen nicht weiterlesen konnten. Wem es gegeben ist, der freue sich aufs Original „The Netanjahus“, mit New Yorker „American-Jiddish-Slang“. Dagegen ist Koskys Zwischen-Rückblick ein formidables Lehrbuch für alle, die Theaterwissenschaften studieren, für alle, die gerne im Theater sitzen und genießen, wozu sie eingeladen sind, für alle, die es nicht erwarten können, dass der Vorhang aufgeht! Kosky macht Theater und erzählt davon. Da können die Theaterferien kommen – wir haben gleich 250 Seiten Theater! Wie geht´s uns gut ...
Helmut Ruppel

Amy B. Greenfield. Ein Fall für Katzendetektiv Ra. Das verschwundene Amulett
Hanser Verlag Berlin
Ra, die Katze des Pharaos, und ihr bester Freund, der Skarabäus Käfer Khepri, müssen den Diebstahl eines kostbaren Amuletts aufklären. Ein junges Dienstmädchen wird beschuldigt, das Amulett gestohlen zu haben. Doch Ra und Khepri glauben fest daran, dass eine andere Person es getan hat. Nur wer? Um auf die Antwort dieser Frage zu kommen, müssen Ra und Khepri viele Tiere im großen Palast des Pharaos ausführlich befragen. Dabei erfahren sie viel über Ägypten, die Pyramiden und die Pharaonen. Dabei bleibt das Buch – und das fand ich gut – bis zum Ende sehr spannend! Es ist das erste in einer Reihe, das nächste heißt „Katzendetektiv Ra und der große Grabraub“. Will ich auch lesen! Altersvorschlag: Von 8 – 88! Und dann noch: Die Aufklärungsquote ist 100 %!
Benjamin
256 Seiten
14.00 €

Amanda Qain. Skandal & Vorurteil. Ein Georgie-Darcy-Roman
Loewe Verlag
Diese zweite Buchempfehlung widmet sich Giorgiana Darcys Leben, es liegt in Trümmern. Seit ihr Ex-Freund Wickham wegen einem Drogenvorfall die Schule verlassen musste, geben fast alle Schüler Georgie die Schuld daran und ignorieren sie oder werfen ihr böse Blicke zu. Selbst zwischen ihrem Bruder Fitz und ihr scheint eine unsichtbare Mauer zu liegen. Nur der nette Mitschüler Avery redet mit Georgie. Eins ist klar: Sie muss allen zeigen, dass sie eine echte Darcy sein kann – also beliebt und gut inder Schule! Denn Wickham ist wieder in der Stadt aufgetaucht - mit einer klaren Absicht … Das Buch ist sehr lustig, vor allem Georgies Gedanken haben mich oft zum Lachen gebracht. Es geht um die Familie, Liebe und die alltäglichen Probleme eines Teenagers. Ich habe gelesen, dass die Verfasserin gerne Bücher der englischen Dichterin Jane Austen nacherzählt - ein Tipp! Ich würde es ab 11 Jahren empfehlen (der Verlag sagt: 12). Fanny Ruppelt
384 Seiten
16.95 €

Tom Segev. Jerusalem Ecke Berlin. Erinnerungen
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Siedler Verlag, 416 Seiten, 32 €
Liegt der Titel im Buchladen auf dem Büchertisch „Israel Ecke Weltliteratur“, hat er umso mehr den angemessen sprechenden Platz gefunden, so unbewusst wie punktgenau...Und wenn er in „Blau-Weiß“ leuchtet, den Nationalfarben Israels, die aber rechts oben und links unten von den brennenden Weltgeschehnissen bedroht sind, ist die zu erwartende Herausforderung des Buches nicht mehr abzuweisen!
Tom Segev, prägend-pointierte journalistische Stimme des modernen Israel, ist seinem Buch in Deutschland nachgereist, ist in vielen Interviews, Lesungen und Seminaren gelassen engagiert präsent. In Berlin wurden er und sein Buch von Shelly Kupferberg präsentiert, die selbst eben ihren Urgroßonkel Isidor (wir kommen noch zu ihr und ihm...) vorgestellt hat. Viele Interviews sind lebhaft und rasch, oft mehr vom Interesse an Segev denn von Kenntnis seines Buches bestimmt, denn das Buch könnte ein gediegenes Geschichtsstudium ausfüllen – sieht man sich das Personenregister an, steht die Frage auf: Wer auf dieser Welt ist nicht erwähnt....Von Albert Speer bis Simon Wiesenthal, Hannah Arendt bis Baldur von Schirach - der Bogen umspannt mehr als die Ecke Jerusalem/ Berlin. Und ein „Eckensteher“ war Segev in seinem Leben keine Sekunde, viel eher einer mit Kanten und Ecken, wie er lebenslang in Ma'ariv und Ha'aretz, tonangebenden Zeitungen in Israel, zur Kenntnis gab. 1945 in Jerusalem geboren, nur wenig älter als sein Land, begleitet er diese jüngere Schwester aufmerksam, liebevoll, scharfäugig und weiser werdend von Tag zu Tag bis heute. Zum 75. Geburtstag Israels wird auch er viel jenen zu erzählen haben, die seine Bücher der historischen Begleitung noch nicht lesen konnten: „Es war einmal ein Palästina“ (2005), „Die ersten Israelis, Die Anfänge des jüdischen Staates“(2008) und die Biographien von Simon Wiesenthal (2010) und David Ben Gurion (2018), um nur diese zu nennen. Für seine Dissertation arbeitete er auch in der Nähe der Hammersteins und Weizsäckers, an der Grenze zu Dahlem auf dem Gelände zwischen Wasserkäfersteig und Täubchenstraße, in einer Bunkeranlage, die - in krassestem Kontrast zu den lieblichen Straßennamen – die fürchterlichsten „Dokumente“ der Nazi-Zeit enthielt, dem Berlin Document Center. Berlin selbst nennt er eine „Stadt ohne Frohsinn“, was nicht für andere Orte Deutschlands gilt, das er viel und intensiv bereist. Die Schilderung der Haftentlassung Speers und von Schirachs in Spandau ist ein Alptraum-Kapitel. Später besucht er Speer und es geht ihm durch den Kopf: „Da drücke ich eine Hand, die auch Hitler gedrückt hat.“ Andere Kapitel sind wohltuend, erheiternd, mit Weisheit, Witz und Herzensgüte geschrieben. Ob er nun Teddy Kollek porträtiert, den charismatischen Bürgermeister von Jerusalem, Mutter Teresa, Bärbel Bohley, Hannah Arendt oder Anwar Sadat – immer sind es Menschen mit Geschichten. Und hier schlägt auch das Herz des Buches: Segev ist überzeugt, „dass Deutschland inzwischen für Israel das wichtigste Land ist, gleich nach Amerika. Politisch, wirtschaftlich, militärisch, wissenschaftlich und kulturell gibt es für Israel kein wichtigeres Land...wie unnormal die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel immer noch sind, das war interessant zu analysieren (= Gedenken an das Attentat in München. H.R.). Gleichzeitig gibt es aber trotzdem eine Wärme und eine Kooperation, die Israel – außer mit den USA – sonst mit keinem anderen Land hat.“ (Jüdische Allgemeine, 15.11. '22) Die Geschichte dieser beiden Länder und ihrer Menschen bewegen ihn und haben ihn zu diesem Buch bewegt. Tom Segevs erzählt von seinem Enkel Ben: „Eines Tages sagte er unvermittelt zu mir: 'Opa, weißt du, ich habe Worte furchtbar gern.'“ Da kann Segev nur noch antworten: „Ich auch“. Die beiden letzten Worte des Buches – gewiss nicht des Autors...Und es gilt ebenso für die Übersetzerin Ruth Achlama! Helmut Ruppel

Andrea Giovene. Die Autobiographie
Andrea Giovene, Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero, Ein junger Herr aus Neapel, Roman,
Band 1, Aus dem Italienischen von Moshe Kahn, mit einem Nachwort von Ulrike Voswinkel
Galiani Verlag, 305 Seiten, 26 Euro
Andrea Giovene, Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero, Die Jahre zwischen Gut und Böse, Roman, Band 2, Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
Galiani Verlag, 336 Seiten, 26 Euro
Zugegeben, meine erste Sympathiebewegung galt Moshe Kahn, dem Übersetzer. Er hat Primo Levi, den unvergleichlich humanen Erzähler von Auschwitz, in die deutsche Sprache gebracht; wir können dank ihmPier Paolo Pasolini, Luigi Malerba, Andrea Camillieri und Norberto Bobbio in Deutsch wahrnehmen, nun auch den literarischen Schatz von Andrea Giovene genießen!
Den Töchtern Hammersteins gleich in Berlin verlässt in Neapel der junge Guiliano sein aristokratisches Elternhaus und „erfährt“ Länder, Menschen und Mentalitäten in Europa, mit Leichtigkeit und Eleganz auf vielfältig verwirrende Weise italienische amore und französischen esprit, beide aufs Allerdeutlichste in verführerischer Diskretion, aufs Erkennbarste verschwiegen, liebesschmerzlichst diszipliniert und auf das Charmanteste gut erzogen – in einem hellwachen, vornehmen, bezwingend schönen Deutsch, das die geschliffene Kunstprosa (so die Kenner) glänzend wiedergibt. Am Ende des nächsten Jahres werden fünf Bände dieser Lebensreise durch Europa zwischen 1903 und 1957 vorliegen; in den zwei nun erschienenen erlebt Guiliano in Neapel den anhebenden Faschismus mit Mussolini und kopfverdrehende Abenteuer in dem „schönen septembrischen Paris“, wozu auch sensible Exkursionen in die Welt von Rubens` Zyklus der Maria de Medici und das Werk Goyas im Prado gehören. Auf viele anmutige weibliche Wesen fällt sein Auge, „und er verhedderte sich in den Fängen seiner verdammten Komplexe“. An vielen aufregenden Orten hält er sich auf , zeichnen sie sich nun aus durch Opulenz oder durch Misere. Gerät er in Kreise von „entmutigender Zweitklassigkeit“, weiß er zu fliehen...Fluchtpunkt ist immer die Wärme der Heimat und der Schoß der Familie in Süditalien, wo die Familie sich seit dem 11. Jahrhundert durch die Zeiten bewegt. Dort in Neapel wird er in striktem Patriarchat „gebildet“, erzogen, geprägt, zur wachsenden Neugier auf ein ganz anderes Leben eingestellt, jenseits der Traditionen, Konventionen, Etikette und Weltsichten, allesamt in Stein gemeißelt und komplett vernachlässigt. Und er lernt, lebensbestimmend, ein junges Mädchen kennen: „...von ihr bewacht, würde ich nie mehr einsam sein, noch würde ich mich je wieder verlieren.“ Er verliert sie, er verlässt die Heimat, er versucht sich in einer neuen Existenz zwischen Einsamkeit und mondäner Gesellschaft, Abbrüchen und Aufbrechen in Mailand, Paris und Rom, heillosen Affären und dichterischen Höhenflügen – der alltägliche Faschismus sorgt für eine bedrohliche Gefährdung in allem Handeln.
Ulrike Voswinckel erzählt im kenntnisreichen Nachwort zum ersten Band die ganze Geschichte – uns bleibt nur, die Bände drei bis fünf sehnlichst zu erwarten. Vom Autor (1904-1995), brillant belesener Journalist und Privatgelehrter, soll hier nur so viel gesagt werden, dass er in vielem seinem Helden nahekommt. Er wird in den Medien oft mit Marcel Proust und Giovanni Tomasi di Lampedusa („Der Leopard“) zusammengebracht, was wohl Werbeüberredung ist. Anfangs wollte kein Verlag das Manuskript annehmen, es benötigte bizarre Umwege (999 Privatdrucke u.ä,) zur Öffentlichkeit.
Bizarre Wege, der Öffentlichkeit zu entgehen, ja, sie zu meiden, aus ihr zu entfliehen, wird jeder Mensch finden wollen, der ein Buch liest, von dem er nicht lassen kann. Er wird gerade in den festlichen Tagen Besuche vermeiden, zu keiner Einladung gehen, Verstecke ausfindig machen, familienfeindliches Verhalten vorgeworfen bekommen, auf Fest- und Freizeitdistanz gehen, weil er nicht anders kann, denn das Buch hat ihn magnetisch, hypnotisch in Bann gezogen; er und sie können es nicht beiseite legen, so überbordend furios ist seine Anziehungskraft. Helmut Ruppel

Thomas Hürlimann. Der Rote Diamant
S. Fischer Verlag
Es sind diese Benediktiner-Klöster, die die jungen Helden erziehen wollen, die die aufregenden Internatsromane hervorrufen“. „Das leuchtende Gegenstück auch der drückendsten Einsamkeit ist die Freiheit. Doch in gewissen Einrichtungen ist man nur einsam, ohne frei zu sein...“ seufzt Giuliano, das Kloster vor Augen, seufzt Arthur Goldau: „Das Kloster, in dessen Internat ich morgen Nachmittag als Zögling eintreten würde, lag in den Bergen und war der Himmelskönigin geweiht und hieß Maria zum Schnee“. Es sind diese Internate, die seit Musils Zögling Törleß und Hermann Hesses Hans Giebenrath das Leben „ein für allemal“ prägen. Allein der Widerstand gegen das diktatorische System der Kadettenanstalt ließ Hammerstein seinen anderen Weg finden. Ian McEwans „Lektionen“ nehmen durch erotische Verstörungen in der Erziehungsanstalt ihren Lauf auf. Nun gerät aber das aberwitzige Benediktiner-Internat in Hürlimans Roman in eine solche furiose Abfolge maßlos anarchistischer Explosionen, dass man angesichts der Eruptionen an Bildern, Porträts, schächtetiefer menschlicher Abgründe, himmelwärts gerichteter Obsessionen, dass man von Seite zu Seite aufs angespannteste blättert in der Erwartung der nächsten Koboldereien an Witz, Intellektualität, Bildkraft und literarischen Radschlägen. Arthur Goldau wird von seiner Mutter Mimi im Kloster abgegeben – allein dort hin zu gelangen braucht einen todernsten Slapstick – und kommt in eine zwar postchristliche, weil komplett verkalkte, aber keineswegs heidnische Welt, im Gegenteil: Menschen und Zeiten werden permanent durchschossen von einer ehemals totalen katholischen Welt. Man muss schon wie der Autor selbst ein solches Internat im Kloster als Lebenswelt kennengelernt haben (Hürlimann „absolvierte“ im exzellenten Kloster Einsiedeln seine Lebens-Schul-Zeit...), um diese geistlich-intellektuelle Grundausstattung zu erwerben und sie wieder abzustoßen. Die Detektivkomödie über die Suche nach dem roten Diamanten bietet nur die Bühne für einen schwindelerregenden Wirbel an irrealen Phantasieexzessen, der durchaus„Plausibilitätsfallen“ (Jochen Hieber, FAZ, 17.08.22) bereithält, bei so viel somnambuler Konstruktionsenergie kein Wunder. Der rote Diamant soll seinen Weg vom Hals der Cleopatra in den Kronschatz der Habsburger genommen haben – die Beschreibung der Stationen ist gewiss aufregender als das Juwel selbst. Jochen Hieber spricht in der FAZ nachdenklich-amüsiert von einer gewissen „Lachphilosophie“. Ich würde von einem überkochenden Literatur-Fondue sprechen, das bei jedem Spieß-Stich das köstlichste zu genießen verheißt. Womit wir wieder bei den Fest-Tagen sind und „Zwischen den Jahren“, einer Zeit, die gestaltet werden kann! Man kann sie zum Lesen nutzen, zum Gehen (Shane O'Mara „Vom Glück des Gehens, Was die Wissenschaft darüber weiß und warum es uns so gut tut“, Rowohlt Verlag 2021, 356 Seiten, 12.00 Euro) und zum Sehen – das hieße, vielleicht nach langer Pause wieder ins Museum!? Helmut Ruppel
317 Seiten
23 €

Kunst hoch drei
Augen für die Kunst. 50 Ansichten und Deutungen
Herausgegeben von Hans Dickel mit Beiträgen von Lorenz und Albrecht Wilkens, Liane Nelius,Marian Wild und Henry Thorau,
starfruit publication, 232 Seiten, 25 Euro
Michael Krüger. Über Gemälde von Giovanni Segantini
Schirmer/Mosel Verlag, 207 Seiten, 38 Euro
Kia Vahland. Ansichtssachen. Alte Bilder, neue Zeiten
Insel Verlag, 112 Seiten, 14 Euro
„ Es gab eine Zeit, da war die Malerei das Leitmedium … sie wandte sich in Kirchen an Analphabeten, im Audienzsaal an Botschafter und Könige, im Wohnzimmer an die Hausherrin. Wer einen Verstorbenen vermisste, ließ ihn malen, wer ein Gegenüber für sein Gebet suchte, erstand ein Andachtsbild … ein neuer Blick auf alte Meister zeigt: Ihre Themen sind unsere.“ So bündig, klar und knapp führt Kia Vahland, Kunstressort der Süddeutschen Zeitung, in ihr äußerst vergnügliches Bändchen ein. Mit 32 Bildinterpretationen zeigt sie auf unsere Themen in alten Bildern: Giorgones Venus trägt bei ihr die Überschrift: Schätzt Auszeiten ohne Pflichten. Tizians Noli me tangere wird von ihr geistvoll überschrieben mit: Was Menschen wirklich berührt. Rubens Venus frigida heißt bei ihr: Rubens zeigt, wie man würdevoll friert. Van Goghs Kurz vor seinem Tod betitelt sie: Van Gogh prangert Altersarmut an. Klimts Adele Bloch-Bauer überschreibt sie: Klimt kennt das richtige Verhältnis von Exzess und Kontrolle. Es ist durchgehend ein kluges Vergnügen, fordert zu eigenem Formulieren und damit Interpretieren auf, lässt sich festtäglichen Runden „spielen“ und ist ein geistvoller Schritt zu alten Bildern in neuen Zeiten. Ihr Inselbändchen „Gartenreich Wörlitz, Ausflug in eine Utopie“ (Inselbücherei 1499, 2022, 85 Seiten, 15 Euro) wird vom „Portal Kunstgeschichte“ hoch gelobt. Mit dem Bändchen in der Hand sollte man sich auf eine Reise nach Wörlitz einlassen.
Der große Vorteil, den der Band von Dickel, den Brüdern Wilkens und anderen hat, dass sie Bilder vor Augen führen, die wir in Berlin sehen können! Jacob van Ruisdaels „Eichen an einen See mit Wasserrosen“,Nicolas Poussins „Landschaft mit Matthäus und dem Engel“, Claude Lorrains „ Italienische Küstenlandschaft im Morgenlicht“, C.D. Friedrichs „Waldinneres bei Mondschein, John Constables „Das Dorf Higham am Fluss Stour“, Pierre Claeszens „Stilleben mit Römer und Silberschale“. Viele weitere Arbeiten führen, ähnlich wie bei Vahland, zu Interpretationen und leiten uns an, „Augen für die Kunst auszubilden“, eine intime Form der Selbsterkenntnis. Das Buch ist eine schöne Schatzkammer, in welche Richtung man seine Schritte auch lenkt. Die Überschriften der Interpretationen führen die Bildtitel sensibel weiter. Im Nachwort schreibt Lorenz Wilkens von einer freien, beweglichen „Anspannung der Aufmerksamkeit“ beim unmittelbaren Betrachten der Bilder. Doch auch im Buch wird sie sich wieder einstellen, gewiss beim Museumsbesuch mit dem Band in der Hand...
„Seit ziemlich genau fünfzig Jahren liebe ich das malerische Werk von Giovanni Segantini. In meiner Jugend hatte sein Bild Rückkehr in die Heimat von 1895 im Museum Dahlem mich auf seltsame Weise angezogen, so dass ich jahrelang behauptete, der Maler müsse (psychisch oder seelisch) etwa so gewickelt sein wie ich...“, eine berührende Eröffnung, ist doch von Liebe die Rede, von seltsamer Anziehung und von Geburt her währender Lebensnähe („gewickelt sein“). So eröffnet Michael Krüger seine mit Segantini verbundene Lebens-und Liebesgeschichte. Der recht bemessene Abstand verbindet am besten, diese kluge Regel fürs Zusammenleben, fürs Leben mit Bildern und Büchern (wie ist es mit der Musik?) wird jede Kunsthistorikerin und jeder Bildbetrachter beherzigen. Krüger ist keiner – er „liebt“, mehr noch, er nimmt, wie aufgeklärt oder analytisch auch immer, eine tiefe Verwandtschaft, eine gegebene Verbundenheit mit dem Maler wahr. Die Zunft reagiert auf das Buch verwundert, mal grämlich dämpfend, mal verwundert-beglückt. Roman Bucheli mag den Nerven des Buches (Neuen Zürcher Zeitung,02.07.'22) am nahesten kommen: Er sieht, in der Sprache der Romantik, eine „Seelenverwandtschaft“ der beiden in ihrer Liebe zum unverstellten Licht der Schöpfung, in den Anflügen zu einer elementaren Kunstreligion, zum Existieren in einem himmelsgleichen Lichtraum fernab aller trubeligen Ablenkungen des geschäftig-leeren Alltags. Das würde Segantini, den Maler des Lichtes über der Oberengadiner Alpenwelt, der nur „draußen“, plein air, arbeitete und somit allzeit in der elementaren bäuerlichen Welt lebte mit dem auch aus der land-wirtschaftlichen Erfahrung stammenden, und jüngst in erzwungenen Einsamkeiten ausharrenden Krüger eng verbinden. Bucheli geht so weit, beiden eine gewisse religiöse Zuneigung zur lichterfüllten Schönheit der Schöpfung, dem Schau-Raum Gottes, zuzusprechen. Und wenn Krüger sagt: „Mit Segantini kann man sehr weit sehen“, ist das gefüllt mit wortlosen Ahnungen und Empfindungen und wir verstehen: Der Romanautor ist ein Romantiker.
Michael Krüger nähert sich seinem Maler literarisch, sprachlich mit-malend, empathisch; er neigt sich zu den Bildern, in unverstellter Zuneigung und Zuwendung. Er widmet den schweren, schönen bilderreichen Band den Freunden, „mit denen ich oft vor den Bildern gestanden habe“ und die „während des Schreiben meines Textes gestorben“ sind - unter ihnen Karl Heinz Bohrer und Klaus Wagenbach. Und ein klein wenig klingt durch das Buch der Versuch, sich mit den Bildern Segantinis noch einmal des eigenen Lebens zu vergewissern. Da schreibt einer ein Buch für sich und es wird ein Geschenk für viele..
Helmut Ruppel

Shelly Kupferberg. Isidor, Ein jüdisches Leben
Diogenes Verlag
„Mein Urgroßonkel war ein Dandy. Sein Name war Isidor. Oder Innozenz. Oder Ignaz. Eigentlich aber hieß er Israel...er war eigensinnig und voller Stolz...wie sonst hätte er sich aus Lokutni bei Tłumacz, Tłumacz bei Kolomea, Kolomea bei Lemberg ganz nach oben hangeln können? Bis zu dem Tag, als Menschen ausgelöscht werden sollten...“ Menschen mit Eigensinn begegnet man häufig in heutigen Büchern – weil sie seltener werden? Shelly Kupferberg, in Berlin lebhaft engagiert in der medial-kulturellen Öffentlichkeit, hat den weisen Satz der jüdischen Tradition „Die Kette der Generationen darf nicht reißen“ wahr gemacht und ist in die Familiengeschichte eingedrungen, mit liebevoller, auch vorm Schrecken nicht kapitulierenden Detektivinnenarbeit. Die führt sie nach Tel Aviv (zum Hängeboden in der großelterlichen Wohnung, wo die Kartons mit alten Briefen liegen...) und nach Wien in diverse Archive mit verwunderlichen Quellen, die bringt sie zu Studien und biographischen Rekonstruktionen im Geäst der verzweigten Familie. Eine wichtige Rolle nimmt auch ihr Großvater, der Historiker Walter Grab, ein. An dieser Stelle musste ich die Lektüre abbrechen, denn ich habe Walter Grab in einem langen Gespräch kennengelernt und wusste damals nichts von seiner Geschichte. Unser Gespräch ging um „frühe Demokraten“, sein Spezialgebiet. Ich erinnere mich, dass er in Nikolaus Lenaus Gedichten politische Spuren witterte, was mir völlig neu war. Nach einer gehörigen Scham-Pause las ich weiter...
Shelly Kupferberg liest gegenwärtig an vielen Orten, gibt auskunftsreich Interviews und hat mit ihrem Band einen unvergleichlichen weiteren Baustein zu ihrem Untertitel hinzugefügt: „Ein jüdisches Leben.“ Wie so oft erzählt ein Witz auf mehreren Ebenen mehr als viele Erzählungen vom Durchkommen. Einer aus der Freundschaft Isidors macht sich auf den Weg aus der Sowjetunion nach Amerika:und der Grenzbeamte fragt ihn, was das für eine Büste sei, die er mit sich trage. Darauf korrigiert ihn der Jude: „Nicht was ist das, sondern wer ist das? Lenin!“ Der Grenzbeamte ist entzückt und beeindruckt von so viel politischem Rückgrat und wünscht dem Juden viel Glück im Exil. Als dieser in die USA einreist und auch dort vom Zollbeamten befragt wird, wer denn das sei, den diese Büste darstelle, korrigiert der Jude: „Nicht wer das ist, sondern::Was ist das? Sei die richtige Frage, und die Antwort dazu laute: Platin!“
Shelly Kupferberg erzählt Geschichte in Geschichten. Am Ende besucht sie Isidors Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof und sieht dort Rehe und Hasen, die drumherum grasen. Und ist entzückt, bis sie erfährt, dass Jäger sie auch erlegen; ein Bild für die Gebrochenheit dieser Welt. Unbedingt sehen, unbedingt lesen! Helmut Ruppel
240 Seiten
24 €

Emine Sevgi Özdamar, Ein von Schatten begrenzter Raum
Suhrkamp Verlag
Es gibt in der Buchbranche den Begriff longseller, so z.B. für H.M. Enzensbergers klug-vergnügliches Buch über die Mathematik; für books, which take a long time to read gibt es noch keinen Fachbegriff. Sie entziehen sich der Etikettierung. Es ist schier unmöglich, Emine Sevgi Özdamar zu etikettieren, weil ihre Arbeiten, ihr Schreiben, ihr Erzählen im wörtlichen Sinne un-be-schreiblich sind, „als würde sie die Welt ein- und ausatmen“, sagte die Laudatorin Marie Schmidt bei der Büchnerpreis-Verleihung mit vollem Recht, und auch dieser Satz ist völlig hilflos und unzureichend angesichts der Sprache Özdamars, zu der man sich verhalten muss wie zu einem Lebewesen,der Wetterlage oder einem Tsunami. Ihr Buch ist einer Bühne gleich, ohne Ende in alle Himmelsrichtungen, erfüllt von hundert Sprachen – hundert? Wenn die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ihre „neue poetische Weite“ des Geistes und der Großherzigkeit preist, bleibt das noch immer auf der Ebene einer Sprachlähmung. Ich gebe es daher auf – Özdamars Buch ist nur mit einem Satz von ihr selber zu rühmen: „Ich wollte nicht mehr schlafen, weil man beim Schlafen so viel Zeit verliert.“ Sie kommt Anfang der Siebziger Jahre aus Istanbul nach Deutschland, verfällt dem deutschen Theater und seinen Regisseuren, rettungslos Benno Besson und nun „spielt“ ihr Leben zwischen Berlin, Bochum, Paris und dem Rest der Welt... Ein kluger Mann nennt sie „Poetin des Unsagbaren“. So ist es. Helmut Ruppel
765 Seiten
28 €

Ian McEwan. Lektionen
Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben
Diogenes Verlag
Beim englischen „Lessons“ höre ich mehr Strenge und Entschiedenheit als bei dem deutschen Fremdwort „Lektionen“, das mich an Schulbücher und Arbeitsschritte erinnert. Eine „Lektion fürs Leben“ sagen wir, doch bei Ian McEwan erteilt das Leben selber die „Lessons“. Klavierstunden heißen auch Lessons...und sie bestimmen die Biographie Ian McEwans, der in englischen Lesekreisen auch schon mal Ian Macabre genannt wurde. Doch die knabenverführende Klavierlehrerin wird eher unaufregend denn makaber gezeichnet, gibt aber dem Internatsschüler (diese Internate!) eine Prägung fürs Leben mit. Ian McEwan erzählt europaweit raumgreifend und familienweit ausgreifend, in den Berlin-Kapiteln mit frappierender Ortskenntnis.
Man liest anhaltend entlang der sich ausdehnenden Girlande ineinander geschlungener Erfahrungen, Freuden, Bitterkeiten und Belehrungen; Erinnerungsmelancholie und das Verhältnis der Generationen zueinander geben den Erzählton an. Wer dies liest, kommt unversehens „zwischen die Jahre“ - vielleicht die beste Zeit um Lesen, zwischen Selbstüberprüfung und Selbstversenkung, eben „zwischen den Jahren“. Unter beschleunigten Lebensverhältnissen, pandemischer Not und Kriegshorizonten wohllautend und wohltuend. Helmut Ruppel
714 Seiten
32 €

George Saunders. Bei Regen in einem Teich schwimmen. Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert
Luchterhand Verlag
In diesem Buch gewordenen Fernunterricht druckt Saunders sieben Erzählungen ab, drei von Tschechow, zwei von Tolstoi, und je eine von Turgenjew und Gogol. Und dann beginnt die seminaristische Arbeit eines Literaten mit literarischen Stoffen, und das mit Verve, Vergnügen, Lust am Verstehen, Freude an der Wahrhaftigkeit und vor allem mit Lust am Schreibenlehren: Wie verführe, überrede, tröste, zerstreue, bezaubere ich?
Und das alles z.B. mit der Erzählung Stachelbeeren von Anton Tschechow oder – einmalig - mit der Nase von Gogol! Und was lerne ich beim Übersetzen des Satzes: „Drei weiße Korbsessel starren in den Dschungel aus Zimmerpflanzen ringsum, so als planten sie ihre Flucht“? Beim Übersetzen hat auch Olga Radetzkaja mitgeholfen. Der Originaltitel verdeutlicht noch einmal das große Studienabenteuer der Lust am Lesen und Schreiben: „A Swim in a Pond in the Rain, in which Four Russians Give a Master Class in Writing, Readind and Life.“ Das umfasst mehrere Semester…
Helmut Ruppel
544 Seiten
24 €

Susanne Fülscher. Ruby. Fünf Freundinnen, zwei Familien und jede Menge Chaos
Carlsen Verlag
Ruby liebt ihren Hund Püppi genauso wie ihre Katze Honey. Der entscheidende Unterschied ihrer Lieblingstiere: Mit ihrem Hund wohnt Ruby eine Woche lang bei ihrer Mutter im entspannten Bezirk Karlshorst, die nächste Woche mit ihrer Katze im trubeligen Friedrichshain bei ihrem Vater in einer WG. Ruby hat auch an beiden Orten Freundinnen: In Karlshorst wohnt ihre beste Freundin Linh; in Friedrichshain Charlie und Azra. Insgesamt hat Ruby also ein schon sehr verrücktes Leben. Als aber Nick Orlando, ein berühmter Popstar in die WG ihres Vaters einzieht, bringt das natürlich Chaos mit sich. Und dann schreibt auch noch Rubys Mutter eine Kolumne in der Zeitung, in der sie ihre Tochter „Hummelchen“ nennt! Neiiin! Aber Ruby hat schon einen Plan, wie sich wehren wird!
Das Buch spiegelt sehr gut die Atmosphäre der vielen Geschichten wieder ist ist voll mit tollen Einfällen. Ein Buch, das man immer wieder lesen kann und trotzdem weiter schön findet. Ich würde es für Kinder ab 8 Jahren empfehlen! Fanny Ruppel
267 Seiten
12 €

Merry Christmas. Weihnachtsgeschichten von der Insel
Erzählt von Saki, Laurie Lee, Martha Gellhorn, Patrick Leigh Farmer u.a.
Dörlemann Verlag
Ein schöner Einband, ein liebenswürdiger Strauß „very british“ verfasster Christmas-Stories, zum Vorlesen beim Punsch und vor dem Einschlafen, fein und schmal – ein wahres Geschenk! Helmut Ruppel
100 Seiten
14 €

Aharon Appelfeld. Sommernächte
Rowohlt Verlag
Sommernächte werden kommen und sind schon da, wiewohl die Horizonte der Gegenwart an alles andere zu denken zwingen als verblühende und sich wieder aufrichtende Rosen und im Dunkel der Nacht zu Boden fallende Äpfel ...
Appelfelds Buch erschien in Israel 2015 und brauchte sieben Jahre bis zu uns. Ob wir es in einem glücklichen Sinne seinem Tod 2018 zu verdanken haben? Es ist das Buch eines sehr alten Mannes, der sich seiner frühen Kindheit erinnert, des letzten Sommers seiner Kindheit. Er streift als kleiner Landstreicher an der Hand des Großvaters auf der Flucht vor allen Schrecken des Krieges und des Judenhasses durch die Wälder seiner ukrainischen Heimat – für Appelfeld das prägende Lebensthema.
In dem berührenden Erzählband „Meine Eltern“ (2019) malte er uns das Bild seiner Kindheit in den Ferien am ukrainischen Prut, der durch die Bukowina fließt, in der nach Paul Celan „Bücher und Menschen“ leben. Rose Ausländer, Paul Celan, Gregor von Rezzori, Selma Meerbaum-Eisinger haben ihn rauschen hören. Noch heute hängt neben der Tür zu Rose Ausländers früherem kleinen Elternhäuschen an einer abschüssigen Straße in Czernowitz hinab zum Prut eine gesplitterte Glasscheibe mit einem erinnernden Wort Ausländers über die grünen Fluten des Prut. Die Sommernächte sind sehr ruhig, leise, kaum mehr zu hören, schon still. Die Gespräche der beiden knapp, fast tonlos, „kam ein Wort“ (Celan), durchbrach es die Stille. Die Wälder haben ihre Geräusche, die Tiere sind stumm. Sprechen die beiden mitunter, geht es um Träume, die Eltern, Gott und die tägliche Sorge um etwas zu essen.
Der Erzählstil Appelfelds ist völlig zurückgenommen, er nähert sich den stillsten Geschichten der Bibel. Manchmal sagt der Alte: „Janek, lies einen Psalm!“ Der fragt: „Welchen?“ Und der Alte erwidert: „Ist gleich. Alle sind gut“. Das Buch ist kein „Alterswerk“, das ist falsche Einbandsprache.
Mit dem Buch ist ein Endpunkt erreicht ... Für den Elfjährigen hat das Leben noch nicht begonnen. Es verfügt über Stille, eine zu sich gekommene elementare Ruhe. Manchmal glaubt man, der Autor hat vergessen, dass es ein Buch werden sollte, er wiederholt sich: Hat er das vor ein paar Seiten nicht schon mal erzählt? Aber da regiert eine große Gegenbewegung zu Lärm, Tempo, Aufregung und hohler Dramatik. Ein Junge und ein alter Mann in Freundschaft und Nähe in der sommernächtlichen Welt der Wälder, mal ein Satz über Gott, mal ein Wort über den Krieg, und wieder Weiterziehen ...
Nein! Nicht melancholisch, geschweige denn depressiv! Ruhig, gefasst und gefestigt, von Psalmen gestärkt, von Güte ermutigt, kurz - was Literatur kann und soll, ist wunderbar zu erleben - das Leben verstehen und der Barbarei widerstehen!
Dank an Aharon Appelfeld und sein Lebenswerk! Dies Erzählen aus und über die Ukraine stärkt die Verbundenheit mit den vielen Stimmen, die im Raketenhagel zu verstummen drohen …
Helmut Ruppel
221 Seiten
22 Euro

Karl Schlögel. Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen
Nachdruck von 2015
Fischer Taschenbuchverlag
„Wir wissen nicht, wie der Kampf um die Ukraine ausgehen wird, ob sie sich gegen die russische Aggression behaupten oder ob sie in die Knie gehen wird, ob die Europäer, der Westen, sie verteidigen oder preisgeben wird. Nur so viel ist gewiss: Die Ukraine wird nie mehr von der Landkarte in unseren Köpfen verschwinden,“ diese Sätze eröffneten vor sieben Jahren das Buch von Karl Schlögel.
Das war vor sieben Jahren! Vor sieben Jahren? Schwer zu beschreiben, wie Vergangenheit unmittelbare Gegenwart wird; ein Historiker erlebt das Wahr-Werden der eigenen Wahrnehmungen. Der „Kassandra“ der Christa Wolf gleich, vermag er allein deshalb die Zukunft zu sehen, weil er aufs Schärfste die Gegenwart in den Blick nimmt. Er hat 2015 nichts „vorhergesagt“, er hat „hervorgesagt“, was der „Westen“ nicht sehen wollte. Und er tat, was in deutscher Wissenschaft noch immer – vermutlich einmalig auf der Welt – spitz getadelt wird: Er ließ den Analytiker beiseite und wurde zum Anwalt. Und blieb Anwalt bis auf seine heutigen Worte zum verheerenden Krieg Russlands gegen das Nachbarland Ukraine („Die Unordnung im Kopf und die Unordnung der Welt“, 3. Mai, Frankfurter Rundschau, u.ö.). Wird der Anwalt zum Erzähler, der Historiker zum literarischen Städtemaler, faltet sich Geschichte in Meistererzählungen auf und wird endlich der Ad-vokat zu einem, der einen Anspruch erhebt, beginnen sich die Trennlinien zwischen Darstellung und Deutung aufzulösen, worauf er prompt von Fachkollegen den Status des „Außenseiters“ erhält, „wenngleich bewundert“, wie rasch hinzugefügt wird.Was gegenwärtig geschieht, ist für Schlögel der „Ernstfall“, das Ergebnis einer seit Jahren fast bewusstlosen Einstellung des Westens der Ukraine gegenüber, die nie mit einer Rückkehr der Bedrohung rechnete, eher in Verständnissehnsucht mit Moskau versank, als die mörderische Vernichtung Grosnys und Aleppos, die Kaperung der Krim wahrzunehmen. Er schilt den Ausfall von Aufmerksamkeit für die Ukraine. Lemberg, Brody und Czernowitz waren immer wichtiger und anziehender für die intellektuelle westliche Elite, als die von Russland bedrohte Realität dieser Städte, da hat Schlögel messerscharfe Bilanz gezogen, vor allem in seinem Czernowitz-Kapitel. Die acht Porträts ukrainischer Städte – Kiew, Odessa, Charkow, Dnipropetrowsk, Donezk, Czernowitz, Lemberg und Jalta – sind große Literatur!
Mir war es vergönnt, Lemberg, die Bukowina, aber auch Odessa auf Reisen intensiv zu erleben, Die Vorstellung, sie im 21. Jahrhundert in Schutt und Asche zu sehen, kommt einem apokalyptischen Alptraum nahe. Aleida Assmann verwies jüngst auf einem Abend in Verbindung mit dieser Buchhandlung auf die gezielte Auslöschung vieler Zeugnisse des kulturellen Gedächtnisses der Ukraine und plädierte anwaltlich passioniert wie Schlögel auf Widerstand und Solidarität.
Doch es ist schwer! Schlögel bilanziert das Ende der bisherigen Erinnerungskultur, weil die europäische Lage archaisch und postmodern raffiniert zugleich sei. Genozidale Strategien überlagerten sich, es gebe noch keine Theoriebildung zu dem, was in Babyn Jar, in Uman, in Mariupol geschehe. Schlögel spricht von einem „kleinen, niederträchtigen Diktator und Massenmörder“, der die Ehre der im Kampf gegen Hitler gefallenen sowjetischen Soldaten so sehr beschmutzt habe. Ein Bild Ernst Blochs helfe ihm, die Gegenwart irgendwie hilfsweise zu benennen: Wir leben im „Dunkel des gelebten Augenblicks“, in dem nur Mithilfe und Beistand gefordert sind, auf dass Europa eine Zukunft habe, eine Zukunft in Fülle und Vielfalt.
Ob hier eine Spur zum Verständnis Putins liegt?
Der gelernte KGB-Angestellte vermag die Vielfalt nicht zu ertragen, die Vielfalt in politischer Praxis, in kulturellen Ausdrucksformen, in Lebensentwürfen und gesellschaftlichen Stilformen. Die elementare Unfähigkeit, die eigene Geschichte zu beleuchten, der Totalausfall einer Reflexion über den Zerfall der Sowjetunion haben ihren Preis. Helmut Ruppel
302 Seiten
15 €

Osteuropa. Kardiogramm – Anamnese des Putinismus
Berliner Wissenschaftsverlag
Hier kann man viel lesen und lernen, wenn einem die putinisierten Autokorsos den Schlaf rauben oder der unvorstellbar hasserfüllte Angriff auf die ukrainische Zivilbevölkerung einen um den Verstand bringen will.
„Erinnerung als Waffe – Die Geschichtspolitik des Putin-Regimes“ von Andrej Kolesnikov eröffnet das Heft mit einem fulminanten Überblick zu den Anstrengungen des Propagandaapparates, das Trauma des Zerfalls zu bearbeiten. Der lange Jahre putinnahe, aber gleichbleibend putinkritische Autor (ob und wie er heute lebt?) hatte schon 2020 alle Begründungen für das kriegerische Putin-Regime parat. Viele weitere Analysen des Putinismus machen das Heft aus der Redaktion von Manfred Sapper (Berlin) zu einer unentbehrlichen Lektüre. Helmut Ruppel
216 Seiten
16 Euro
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Catherine Belton. Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste
Übersetzt von Elisabeth Schmalen und Johanna Wais
Verlag Harper Collins
Galt Schlögels Buch schon als „Buch der Stunde“, so ist Beltons Band das „Buch des Augenblicks“.Backsteinschwer ersetzt es eine Bibliothek. Im Original heißt es „Putins People“, das deutsche „Netz“ verschärft zutreffend die Erkennbarkeit. Von den 704 Seiten sind rund 100 sehr kleingedruckte Anmerkungen. Die von mir gelesenen rund 300 Seiten für diesen Bücherbrief hinterlassen den Eindruck: Egon Erwin Kisch hat eine habilitierte Enkelin mit den Qualifikationen einer wissenschaftlichen Meisterspionin! „Wladimir – allein zu Haus“? Nein, da gibt es ein mafiöses Geflecht, dessen Porträts eine Eremitage der Macht benötigen! Und jetzt die Frage – den langen Tisch vor Augen - wo sind sie alle heute? Es beginnt klassisch mit einer Auflistung „Dramatis personae“, doch: weit gefehlt mit der Annahme, das seien nun alle - in die Hunderte gehen die Menschen, die das „Netz“ bilden, das diesen Staat trägt. Welche technische Elite trug das NS-Reich?
Viele von ihnen haben Catherine Belton bedroht, Prozesse gegen sie angezettelt, wollten sie mund-tot machen - bis heute ohne Erfolg, denn der Verlag stützt sie. Mit diesem Band hat er zugleich ein unvergleichliches Personalverzeichnis des russisches Machtnetzes. Und alle Lesenden auch! Einer gewiss: Karl Schlögel. Ihm verdanken wir immer wieder den Versuch, unseren Blick auf die „wehrhafte Zivilgesellschaft“ der Ukraine zu wenden und zugleich unsere Solidarität und Hilfsbereitschaft aufzurufen. Helmut Ruppel
704 Seiten
26 Euro

Joseph Roth. Rot und Weiss. Wanderer zwischen Städten
Mit einem Nachwort von Volker Breidecker
Die Andere Bibliothek
Es ist ein besonderer Band, denn er enthält die Fassung letzter Hand vom Text „Die weissen Städte“ (1925), die Schriften „Juden auf der Wanderschaft“ (1927) und „Das Autodafé des Geistes“ (1933), dazu ein außergewöhnlich sorgfältiges, hundert Seiten umfassendes Nachwort von Volker Breidecker, das eine lebhafte und erhellende Studie zu Roths Leben und Werk ist, „so klug wie kundig“, urteilt Klaus Nüchtern im Wiener „Falter“. Der sorgfältige Quellennachweis bestätigt die Qualität der Edition – man muss das erwähnen, weil Roth „ein Meister im Erzeugen von Legenden über sich selbst, im Legen falscher Fährten und im Verwischen der Spuren“ war. Und eine Anzahl historischer Fotografien! So ist man versucht, die Lektüre des „Nachworts“ vorzuziehen, weil es über Hintergrund, Kontext und Feinheiten der Schriften Roths sensibel aufklärt. Gerade angesichts der unendlichen Leichtvernebelungen seines Schreibens und seiner Existenz. Im Grunde sind es zwei Bücher, Roths Schriften und eine Werkbiographie Breideckers.
Roth ist darin ein Vor-Mund Schlögels, indem er in seinen Städtebildern vieles ahnungsvoll vorwegnimmt (Lemberg!), dem später Schlögels Interesse gilt! Roths Sprache enthält – Vorsicht! - viele Suchtstoffe, schreibt er nun über Galizien oder Südfrankreich. Die stilistische Eleganz, mit der er Avignon oder Lemberg beschreibt, ist verführerisch. Michael Maar meinte jüngst, seine Sprache sei „manchmal, ganz selten, nicht durch Ozeane getrennt vom Kitsch,“ unbestritten richtig! Selbst beim „Hiob“ (1930) trifft das zu ...
Wenn er über die „Juden auf Wanderschaft“ schreibt, kommt ihm ein Satz unter, der, kitschig oder biblisch, im Gedächtnis bleibt: „Es ist immer noch der Auszug aus Ägypten ... Man muss immer auf dem Sprung sein, alles mit sich führen, das Brot und eine Zwiebel in der Tasche, in der anderen die Gebetsriemen.“
Mit Joseph Roth und seinem Text über „Juden auf Wanderschaft“ durch die Ukraine zu gehen ist ein Weg zwischen Schmerzen und Klagen. Und doch – es muss sein! 1934 antwortete Roth auf eine diesbezügliche Umfrage, „dass der Dichter so wenig wie jeder andere ein Recht hat, keine Stellung zu nehmen zu der Unmenschlichkeit der Welt von heute.“ Und er führt aus, was ein Dichter zu tun hat: Mitgefühl für die Schwachen, Liebe zum Guten, Hass gegen das Böse, das auch laut und unzweideutig, also deutlich, zu verkünden.“ Deshalb wollen Menschen das Klassenzimmer im Gymnasium von Brody sehen. Und nachsinnen über den Satz: „You can take the boy out of Brody, but you can't take Brody out of the boy.“ Helmut Ruppel
322 Seiten
24 Euro

Iwan Bunin. Nachts auf dem Meer. Erzählungen 1920-1923
Band 10 der Gesamtausgabe
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg und Swetlana Geier
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas Grob
Dörlemann Verlag
Das Russland, dem Bunin geistig der „Klassikergeneration“ von Tschechow und Tolstoi angehörte, schied sich von dem der Oktoberrevolution; Bunin mit seiner Lebensgefährtin Vera Muromzewa im Februar 1920 auf einem überfüllten Schiff von Odessa nach Konstantinopel, einer Route, einer wahrhaften „Lebensader“, die heute wieder wegen der Weizentransporte so unvorstellbar wichtig ist. Ende März, nach bedrohlichen Umwegen, erreichten sie das Zentrum der russischen Emigration – neben Berlin - Paris. Dort entstehen viele Erzählungen, die den Grundstein dafür legten, dass er 1933 als erster russischer Autor den Nobelpreises für Literatur erhielt.
Von den 28 Erzählungen sind 15 erstmals ins Deutsche übersetzt, von denen einige die Zerrissenheit des Dichters zwischen dem Exil und der verlorenen Heimat Russland zur Sprache bringen. Er gewinnt die Freiheit des Schreibens und muss den Schmerz über die aufgegebene, die verlassene, die vertraute Welt seiner Kindheit und Jugend aushalten. Auch Vladimir Nabokov erlebt diesen Bruch im nahen Berlin und hat ihn – wie auch immer - „bewältigt“; wie auch der jüngst hier vorgestellte Gaito Gasdanov („Schwarze Schwäne“), der als Taxifahrer in Paris, wie Nabokov als Tennislehrer in Berlin, sein Leben als Schriftsteller bestritt. Das wäre von vielen zu erzählen ...
Ein empathisches Nachwort des Herausgebers, weiterführende Anmerkungen der Übersetzerin, editorische Notizen machen auch diesen Band zu einem wohltuenden, sympathetischen Fund, wie überhaupt dem Dörlemann Verlag zu danken ist für seine sorgsame Achtgabe auf die Bunin-Gesamtausgabe. Der Titel entstammt den Erinnerungen an die noch eben geglückte Flucht-Fahrt aus Odessa. Den gegenwärtigen Odessa-Fernseh-Nachrichten vermag man nicht mehr zuzusehen. Wer Odessa zerbomben will, muss allen Sinn für diese Welt verloren haben! Bunin lesen – auch das kann zu starker Abhängigkeit führen ...
Helmut Ruppel
333 Seiten
36 Euro

Viktor Schklowski. ZOO – Briefe nicht über Liebe oder die zweite Heloise
Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Olga Radetzkaja und einem Essay von Marcel Beyer
Guggolz Verlag
Viktor Schklowski kam nach überstürzter Flucht über Finnland 1922 in Berlin an. Er kannte die „Szene“ der emigrierten Freunde und setzte auf die guten Verbindungen Maxim Gorkis in Bad Saarow, auf mögliche Mitarbeit in Projekten von Ilja Ehrenburg, Boris Pasternak und El Lissitzky in Berlin. Sturzbachartig schießt er in eine obsessive Liebe zu Elsa Triolet - selbstbewusste Freundin revolutionärer Geister, spätere Gefährtin von Louis Aragon in Paris - eine völlig aussichtslose Anstrengung, aus der aber für uns eine lebhafte Briefsammlung hervorgeht, Briefe eines Liebenden „an eine Frau, die für ihn keine Zeit hat.“ 1923 als Buch erschienen, mit Kürzungen und vielsagenden Auslassungen nachgedruckt, heute in der Originalfassung vor uns.
„Herzblatt, mein Guter. Schreib mir nichts von Liebe. Bitte nicht. Ich bin sehr müde. Ich liebe dich nicht und das wird auch so bleiben... Mach keine wilden Szenen am Telefon. Werde nicht rabiat. Ich brauche meine Freiheit, mir soll niemand auch nur Fragen stellen dürfen. Du gehörst in ein Sanatorium, mein Lieber. Ich schreibe im Bett, weil ich gestern tanzen war. Gleich steige ich in die Badewanne. Vielleicht sehen wir uns heute. Alja“ Er, Viktor, schreibt die Briefe Aljas gleich mit… es werden insgesamt 29 Briefe mit viel Berlin, Gewitter, linden Lüften, Theater, Bekenntnissen und in einer nie Ruhe findenden Sprache und wahren Bildexplosionen. Kenntnisreiche Anmerkungen, weit mehr als ein „Nachwort“, steuert Olga Radetzkaja (aus der Redaktion von „Osteuropa“) hinzu.
Schklowski ist mit Roman Jakobson in die Geschichte der russischen Literaturtheoerie und Linguistik eingegangen, hat Stalin überlebt, Nadeshda Mandelstam hat Gutes von ihm in Erinnerung, was Freundschaft betrifft, er hat viel publiziert – doch dieser Band ist ein einmalig verwirrendes Juwel! Olga Radetzkaja beginnt ihr Nachwort, das man vorher lesen sollte: „Also der Reihe nach, so weit das möglich ist.“ Es ist nicht möglich, es ist besser, sich sofort in die Liebe und das Berlin von 1923 stürzen. Dank an den Guggolz Verlag für die Erinnerung an Viktor Schklowskis Erstausgabe!
Helmut Ruppel
170 Seiten
22 Euro

Lea Ypi. Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Suhrkamp Verlag
„Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst“, dies Wort von Rosa Luxemburg eröffnet ein bewegendes Buch über Geschichte und Freiheit ohne eine nähere Bezeichnung wie Erinnerungen, Roman oder Fragen nach… Es ist eben ein unbeschreiblich warmherziges, menschenfreundliches, schönes und kluges Buch einer begnadet begabten Erzählerin!
Und wer spätestens jetzt die Hand hebt und ruft: „Es reicht! Es reicht!“, sollte rasch „Sternstunde Philosophie – 3Sat Kultur, Das Geheimnis der Freiheit“ im Internet einschalten: Wolfram Eilenberger („Feuer der Freiheit“, sitzt einer Frau gegenüber, die ihm, aufmerksam lächelnd, gespannt zuhörend, behutsam erwägend, ihren Begriff der Freiheit entfaltet, währenddessen er zusehends, soll man sagen „schmilzt“? Ihr Buch gehört zu jenen raren Exemplaren, bei denen man beim fortschreitenden Lesen mit Seufzen auf die verbleibenden Seiten blickt ...Gehörte die Ukraine schon zu den kaum beachteten Ländern Europas, weil die Verständnisinnigkeit, politisch mit Putin, literarisch mit Puschkin dominierte, so war Albanien nie im Blick Westeuropas – ein total abgeschottetes Land zwischen allen Blöcken. Dort wächst Lea Ypi in einer Familie auf, die absolut nicht repräsentativ für das sozialistische Albanien stand, auch wenn die Erzählerin elf Jahre ein glückliches und begabtes Kind dieser Welt war und liebevoll von Onkel Enver spricht. Die Erwachsenen blenden die politische Realität dem Kind gegenüber aus – sie ist zu gefährlich. Die Familie hat nur stark prägende Gestalten, allen voran die Großmutter, ihr ist auch das Buch gewidmet. Von den Eltern weiß das Kind: „Ganz allgemein war die Entschlossenheit meines Vaters, seine Meinung zu äußern, ebenso so groß wie die meiner Mutter, sie zu ignorieren.“ „Als mein Vater einmal vorschlug, eine historische Dokumentation über die Hungersnot in Bengalen zu schauen, sagte Mama: 'Zafo, ich weiß, was Hunger ist, ich muss das nicht im Fernsehen sehen.“
Es kommt der Umbruch, die Welt verwandelt sich: Aus der „Partei“ wird die „Zivilgesellschaft“, aus der „Selbstkritik“ die “Transparenz“, aus der Freiheit - die des Kollektivs - wird die des Individuums. Lea Ypi rechnet nicht mürrisch ab mit dem Gestern, sie erzählt humorvoll von unvergesslichen Personen in unvergesslichen Situationen, von denen die Umarmung Stalins (der steinernen Statue) zu Beginn des Buches zu den köstlichsten gehört. Viele der Rückblick-Bücher sind wehleidig, andere harmlos (große Ausnahme: Peter Richters „89/90“), nein: Lea Ypi ist zu klug, zu charmant, gedanklich viel zu elegant (ihre Großmutter kommt aus der Familie eines türkischen Paschas ...), um in diese Fallen zu gehen. Sie beginnt Philosophie zu studieren, um eine Verbindung von Kant und Marx zu denken – von der sie Wolfram Eilenberger im Gespräch mit bezauberndem Lächeln erzählt. Der arme Eilenberger ...
Helmut Ruppel
332 Seiten
28 Euro

Lena Gorelik. Wer wir sind
Rowohlt Verlag Hamburg
Sie hat den Literaturpreis „Text & Sprache“ vom Kulturkreis der deutschen Wirtschaft verliehen bekommen (SZ am 16. Juni). In der Begründung heißt es, sie sei mit ihrer Familie „als russisch-jüdischer Kontingentflüchtling“ eingewandert und musste sich „schreibend mit ihrer doppelten Identität auseinandersetzen.“ Eine delikate Begründung: Was ist eigentlich “russisch-jüdisch“? „Eingewandert“? ein Wort voller Unter-, Bei- und Nebentönen – man sieht die einwandernden Ostjuden, die Habenichtse. Zum „Einwandern“ nur so viel: Am 2. Mai 1992 um 23.55 h besteigt die Familie Gorelik auf dem Bahnhof der 5-Millionen-Großstadt St. Petersburg (damals noch Leningrad) den Zug, der sie nach einigen Windungen ins schwäbische Ludwigsburg brachte. Die Mutter mit einem summa cum laude Examen, frühere Leiterin einer Fabrik, der Vater mit Diplomen und Examina, die Tochter mit exzellenten Zeugnissen, die Großmutter mit einem Jiddisch, das dem Schwäbischen so gleich klang … Und nun beginnt dies Leben ohne Zugehörigkeit, mit der Suche der Mutter nach Putzstellen und dem rasanten Aufstieg der Tochter durchs deutsche Gymnasium in dieser zum Verzweifeln geeigneten Sprache, der ihr den hässlichen Titel „Streberin“ einbringt, wofür es im Russischen kein Wort gibt. Die deutsche Sprache … “Etwas hat zu sein“ - wer auf dieser Welt kann das begreifen? Und überall dies: „Lernen Sie doch erst einmal richtig Deutsch!“
„Wer wir sind“ - Auskunft über uns, Selbstporträt im Familiengedächtnis, Information über uns, die Anderen, narrative Visitenkarte, Einblickgabe in ein fremdes Leben. Lena Goreliks Buch mag man nicht aus der Hand geben, so hereinziehend, Anteil gebend ist es verfasst in dem Bemühen, zugehörig zu werden. Wenn man aus einem Land kommt, in dem das Wort „Ich“ der letzte Buchstabe im Alphabet ist. Die Lektüre ermöglicht viele Begründungen für viele hoffentlich hoch dotierte Preise! Helmut Ruppel
422 Seiten
22 Euro

Claudio Magris. Gekrümmte Zeit in Krems. Erzählungen
Aus dem Italienischen von Anna Leube
Hanser Verlag München
Zwei Juden beraten über Orte, die sie zur Emigration wählen könnten – Chile ? Schanghai ?
Bei Schanghai sagt einer: „Das ist aber furchtbar weit!“ sagt der andere: „Weit von wo?“
Mit diesem Titel „Weit von wo?“ trat Claudio Magris in mein Büchergedächtnis und hat es nie mehr verlassen. In seinem lebenslangen Stammcafé San Marco in Triest, eine der heimlichen Hauptstädte der habsburgischen Doppelmonarchie, traf ich ihn nicht, den Professor für Deutsche Literatur mit Gastprofessuren in der ganzen Welt, auch an der FU Berlin. Nun hat er, Jahrgang '39, fünf Erzählungen vorgelegt, die natürlich von ihm, vom Alter handeln. „Er stieg aus dem Bus und hielt sich dabei am Haltegriff fest, bis sein Fuß vorsichtig den Asphalt berührte.“ Er ist vorsichtig geworden, körperlich, aber auch sozial und diskret. Die Erzählungen sind so nebenbei, so zufällig, so melancholisch, mit übergehängtem Jackett, so wohltuend unambitioniert, so absolut gewiss, dass Literatur die Welt nicht retten kann, so philantropisch ironisch, so altersmilde gutgelaunt, dass man nicht aufhören kann zuzuhören. Da ist er angekommen mit 82 Jahren, dass er sagen kann: „Nun war die Welt ein Hund, der ihn nicht beißen konnte, sondern mit ihm herumtobte und spielte.“
Die Zeit spielt eine große Rolle, wie die Titelgeschichte andeutet. Es ist ihm, als gerate er in ein „unendliches Präsens“. Fast genau in der Mitte des Buches heißt es einmal „Wann also ist jetzt?“ Verglichen mit zwei anderen „Alters“-Schriftstellern, Martin Walser und Max Frisch, bleibt Magris beim Erzählen. Er leistet sich nicht die fröhlich narzisstische Enthemmung Walsers und die Eitelkeit Frischs ist ihm fremd. Vielleicht hat ihm dabei Triest geholfen mit seiner Internationalität? In einer Erzählung wird ein berühmter Kafka-Experte nach einem Vortrag von einer Zuhörerin mit der Behauptung konfrontiert, er habe zu Schulzeiten eine intensive Beziehung zum schönsten Mädchen der Schule gehabt, sie sei jetzt ihre Freundin und habe sie en detail in Kenntnis gesetzt. Der Kafka-Experte erinnert sich an nichts, an gar nichts. Doch irgendwie stellt sich sehr langsam heraus, dass die Verbindung nachträglich wahr ist oder wird? Die Zeiten verschieben sich ...
Ein aus Polen eingewanderter Jude nannte Mussolini immer „Mojschele“ und befahl dem Sohn, die Faschisten ordentlich zu grüßen: „Hejb die Hand, meschuggener!“ In Triest kommen viele Menschen von weither zusammen; es gibt viel zu erzählen. Helmut Ruppel
93 Seiten
20 Euro

Jaroslav Rudiš. Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen
Piper Verlag München
Ein mit-reißendes Buch! Ein Buch fürs Unterwegs-Sein. Der Autor kennt jede Weiche in Europa, jede Speisekarte zwischen Prag und Hamburg, jeden Tunnel zwischen Semmering und Gotthard. Wer in Richtung Kuopio muss und noch einen Grundkurs in finnischer Bahnhofsprache braucht, bitte ab S. 73.
Hier gilt es unbeschwert: Das Leben in großen und kleinen Zügen genießen! Mit einem Großvater als Weichensteller, einem Onkel als Fahrdienstleiter und einem Cousin als Lokführer und Bohumil Hrabals „Liebe nach Fahrplan“ als Lieblingslektüre – da genießt man als Mitreisender jede Verspätung! Zug um Zug ein reines Vergnügen! Helmut Ruppel
256 Seiten
15 Euro

Ljudmila Ulitzkaja. Alissa kauft ihren Tod. Erzählungen
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Hanser Verlag München
Ob ihr Band „Eine Seuche in der Stadt“ (2021) sie angeregt hat, diese Erzählungen zu sammeln? Im dritten Teil des Bandes stellt sie reichlich sarkastische Miniaturen zusammen, „Sechs mal sieben Miniaturen“, darunter „Sieben Tode“, „Sieben Geburten“, „Sieben Krankheiten“, aber auch „Sieben Ehepaare“. Und auch sonst spielen die Zeit und der Tod wie bei Claudio Magris – trotz mannigfacher Unterschiede – eine große Rolle, hinzu kommt, dass beide seit geraumer Zeit „Geheimfavoriten“ für den Nobelpreis sind, aus gewichtigen Gründen!
Die Alissa der Titelerzählung möchte zum Sterben hin kein Pflegefall werden, sie sucht ein Mittel zum sanften Suizid. Da bekommt ihre Schwiegertochter ein Kind – sie wird eine glückliche Großmutter! Seit Anfang März lebt Ulitzkaja in Berlin. Sie ist nicht geflohen, aber eins gilt: Putins Russland ist nicht ihr Russland. Und sie ist der festen Gewissheit: „Wenn der Krieg gestoppt wird, dann nur von Frauen!“. Und sie werden porträtiert in den Erzählungen. „Ich liebe diese leichtsinnigen, weisen, schamlosen, bezaubernden, verlogenen, wunderbaren, abergläubischen und treuen, diese überaus klugen und unfassbar dummen Frauen, von denen die Engel im Himmel noch lernen könnten … ich brauche euch, wie ihr seid ...denn ich bin wie ihr und passe zu euch.“ Es gibt Schnapsgelage unter Freundinnen, vorsichtige herzbewegende Liebe, erotische Kosenamen, ironische Nasenstüber und den fortlebenden homo sovieticus. Man muss oft tief durchatmen, das Buch beiseite legen, sich umschauen nach der Welt, in der man lebt - und dann sofort weiter lesen! Immer geht es um Freundschaft, widerständige Klugheit und Lebenszuversicht in Fülle und Vielfalt. Nicht im Großraumwagen zu lesen, Abteil wäre eine gute Wahl …
Helmut Ruppel
304 Seiten
25 Euro

Fridolin Schley. Die Verteidigung. Roman
Verlag Hanser Berlin
Im stimmenstarken Chor all derer, die, kritisch beeindruckt, zustimmend bis aufgewühlt, in jedem Falle herausgefordert, das neue Porträt der Familie von Weizsäcker in dem Buch von Fridolin Schley gelesen haben, weist keine Stimme auf Enzensbergers „Hammerstein oder Der Eigensinn“ (2008) hin, was aus vielen Gründen nahe gelegen hätte: Deutsche Familiengeschichte in Generationen, hohe Repräsentanzaufgaben in Regierung und Militär, Distanz und Nähe zum NS und Zweiten Weltkrieg, Folgegeschichte BRD – eine Fülle höchst kontrastiver, aufregender Parallelen. „Hammerstein“ erlebte heftige Abfuhren von der Historiker-Zunft (Götz Aly wütete dawider). Es mag sein, dass Fridolin Schley deswegen für seine Arbeit Roman als Genrebezeichnung nahm, während Enzensberger für Hammerstein „Eine deutsche Geschichte“ gewählt hatte; denn eine Geschichte war es, eine deutsche Geschichte auch... Das Urteil Hammersteins über die Deutschen im NS, 98 Prozent seien „eben besoffen“, wird kaum zu seiner Beliebtheit beigetragen haben. Anders bei den von Weizsäckers, wo ein Untertitel wie „ Der Eigensinn“ undenkbar wäre, greift doch Schley oft zu dem Bild „Er lavierte“. Der Verteidiger Hellmut Becker bedrängte von Weizsäcker, er solle bei der Urteilsverkündigung Überlegenheit zeigen, nicht Überheblichkeit, das führt uns mitten ins Problem, dem sich der Roman von Fridolin Schley widmet: Das - in seinem Schutzverhalten dem Vater gegenüber - so verstörende Selbstbild des Sohnes, das so schwer nachzuvollziehende Verhalten des Vaters. „The United States of America vs. Ernst von Weizsäcker et.al.“ heißt 1946 der Prozess offiziell, er wird auch „Wilhelmstraßenprozess“ und intern “Omnibusprozess“ genannt, weil hinter „et.al.“ bis zu 20 Personen standen. Hellmut Becker hatte als Beistand in die „Verteidigung“ einen Sohn des Angeklagten, Richard von Weizsäcker, hinzugenommen. Es geht also nicht um Schach wie in „Lushins Verteidigung“ (Nabokov), sondern um den Nachfolgeprozess zum Nürnberger Prozess von 1945. Seit der Apologie des Sokrates von Platon ist der Prozess das Ideal der öffentlichen Wahrheitsfindung. Die (untauglichen) Versuche, einen „Prozess Jesu“ zu rekonstruieren, der „Auschwitzprozess“ (Peter Weiss), nicht zuletzt die „12 Geschworenen“ (Lumet/Fonda) als Glanzstück Hollywoods, zeigen das Drama der Wahrheitssuche als anhaltend aktuell; genial aufgenommen von Franz Kafka, einmal im „Prozess“ und einmal im „Brief an den Vater.“ Schley wollte seinen Text erst „Befragung“ nennen, doch die innere wie äußere Dramatik der Geschichte reichte weiter, dazu war die geistige Situation Deutschlands in den ersten Nachkriegsjahren zu aufregend, ihr prägendes Personal zu bestimmend: Die Herren Wurm, Dibelius und Heuss stützen von Weizsäcker, Margret Boveri schreibt, Robert Kempner klagt an, das Ausland stellt die Kameras auf und der Sohn hilft, den Vater zu verteidigen. Ernst von Weizsäcker, seine Person steht für die Existenzfrage jener Jahre: Widerstanden oder mitgemacht? Es geht um den ranghöchsten Diplomaten eines Unrechtsstaates... Was hat er gewusst, was hat er befördert, hat er mitgemacht? Eine Frage, in der „Deutschland“ sich selbst vor Gericht gestellt sah. „ Ich habe nichts mitgemacht, ich habe einen Total-Widerstand geleistet, insgesamt bis an den Rand meiner Möglichkeiten. Das nenne ich nicht mitgemacht.“ Damit ist der Nerv getroffen, damit ist der um Empathie bemühte und immer wieder befremdete Sohn Richard an jedem Prozesstag beschäftigt. Hier liegt die Stärke des Buches: Sich einfühlen in das Denken, Handeln und Nicht-Handeln, in die Sprache und das Schweigen des geliebten Vaters, sein quälend-unbegreiflicher Ausfall an Empathie in der Menschenfeindlichkeit der NS-Welt, die er als höchster Diplomat des „Reiches“ repräsentierte. Der Sohn leidet an dem so schwer nachvollziehbaren Selbstbild des Vaters, seiner schier unerträglich vernebelnden Diplomatensprache bis in das Labyrinth der nichts und alles aussagenden Mini-Kürzeln. Und da gibt es so viele tödliche Texte, die am Ende ein „W.“ tragen. Julia Encke spitzt es zu (FAZ): „Widerstand durch Mitmachen?“ Soll es das gewesen sein? Eine geniale Lösung, nur dass es einem die Kehle zuschnürt. Im biblischen Hebräisch gibt es nur ein Wort für Kehle und Seele. Widerstand durch Mitmachen! Die emsige Persilschein-Industrie lief an...
Schley erzählt knapp, verdichtet, diskret, fragend-tastend, mit großen Bögen ins „Heute“, setzt an zu atemberaubenden Porträtskizzen, unter denen Hellmut Becker (ab 2. Mai 1937 NSDAP-Mitglied), der in der späteren Bundesrepublik als Bildungspolitiker Karriere machte, am schärfsten gezeichnet ist. Sein Plädoyer gipfelte in den Worten: „Weizsäcker...ein Christ, ein Diplomat im besten Sinne des Wortes, ein wahrer Patriot“. Dass er Thomas Mann ausbürgern wollte, war Becker neben so vielem anderen irgendwie entgangen. Ein Glanzstück für jedes politikwissenschaftliche und historische Hauptseminar! Schleys Buch über Schuld und Unschuld, Opfer und Täter, Moral und Gewissen ist eine fragende Erkundung; sie beginnt mit dem biblischen Satz „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Dank Schleys Arbeit ist wieder darauf zu hoffen. Helmut Ruppel
269 Seiten
24 Euro

Uwe Wittstock. Februar 33. Der Winter der Literatur
Verlag C. H. Beck
Am 1. April 1938 war von Weizsäcker in die NSDAP eingetreten, wurde Staatssekretär im Auswärtigen Amt, in die SS aufgenommen, später SS-Brigadeführer samt Totenkopf-Ehrenring und SS-Degen – offenbar ein verlässlicher Mann der Macht. Wir wissen nicht präzise, wo er und mit welchen Kenntnissen er den Februar 1933 verbrachte, offiziell Gesandter in Oslo. Ob er vom blitzschnellen Verjagen der deutschen literarischen Elite im Februar 33 nichts erfahren hatte? Den Taliban in Kabul gleich, trieb die neue Macht in wenigen Wochen die tonangebenden Stimmen in Literatur, Theater und Presse in die Flucht, ins Untertauchen, in katastrophische Kälte.
„Berlin, 7.2. 1933 – Mein liebes Kind! Grippewelle u. Heil Hitler beherrschen den Markt...die Grippe ist sehr schlimm. Humlis Klasse ist schon 2 Wochen geschlossen, er selbst gesund u. sehr vergnügt ob der Extraferien...ich war letzten Montag im Faust u. schaute in der Pause auf den Gendarmenmarkt hinunter, da zogen unabsehbare Fackelzüge nach den Linden. Eine Stunde später, in der 2. Pause, zogen sie noch immer. (Wo hatten die Nazis so schnell 20 000 Fackeln her?). Sonst aber herrscht eigentlich Ruhe...“ Betty Scholem schreibt ihrem Sohn Gershom (Gerhard) nach Jerusalem, wie sie den 30. Januar erlebt hat, äußerlich beruhigt, zwischen den Zeilen zittern Ahnungen. (Betty Scholem-Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel 1917-1946, C.H. Beck, 579 S.). Uwe Wittstock erzählt den gesamten 30. Januar unter der Überschrift „Die Hölle regiert“: Joseph Roth nimmt sofort am Morgen den Zug nach Paris, Egon Erwin Kisch trifft in Berlin ein, Klaus Mann verlässt die Stadt, Georg Kaiser und Hermann Kesten lesen die BZ-Schlagzeile „Adolf Hitler, Reichskanzler“, Carl von Ossietzky verlässt die U-Bahn, um sich den Nazi-Rummel anzusehen, Hermann Kesten und Erich Kästner bereden die mögliche Flucht in der Weinstube Schwanneke, Harry Graf Kessler sieht vorm Hotel Kaiserhof die Nazikolonnen marschieren, Hitler befasst sich mit dem Gerücht, Hammerstein wolle gegen Hindenburg putschen...so geht es über Stunden am 30. Januar, präzise literarische Miniaturen in rascher Folge, gleich packenden Filmsequenzen. Wittstock beginnt sein Buch mit einem erzählenden Großphoto vom alljährlichen Presseball am 28. Januar auf dem sich tout Berlin trifft...und endet am 15. März. Besondere Aufmerksamkeit erhalten Else Lasker-Schüler, Ernst Toller, Carl von Ossietzky, Nelly und Heinrich Mann, Thomas Mann, Gottfried Benn, Vicky Baum, Alfred Döblin, Ricarda Huch (!), Gabriele Tergit, Oskar Loerke, Erich Mühsam, Bert Brecht und die wichtigsten Stimmen der Preußischen Akademie der Künste, deren Um-Fall zu den beschämendsten Kapiteln der rigorosen Gleichschaltung gehört. Deutschland hat sich von dem faschistischen Furor im Februar 33 nicht mehr erholt - und Wittstock lässt es miterleben, mithören, mitlesen, aber auch mitaushalten? Hermann Göring, preußischer Innenminister nannte die Ziele der Naziherrschaft: „Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristische Bedenken. Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts!“ So geschah es. Es gingen so viele, mit Schirm und kleinem Koffer, um nicht aufzufallen...Von Seite zu Seite denkt man: Was geschähe heute in ähnlicher Lage? „Widerstand durch Mitmachen?“ Der „rasenden Verwandlung Deutschlands in eine Hölle aus Diktatur und Terror“ (Sten Nadolny), dem „Winter der Literatur“ , dem „furchtbaren Augenblick“ (Lessing) ist Uwe Wittstock gerecht geworden. Respekt!
Helmut Ruppel
288 Seiten
24 Euro

Günther Rühle. Ein alter Mann wird älter. Ein merkwürdiges Tagebuch
Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Ahrens
Alexander Verlag Berlin
Günther Rühle gebührt Respekt für seine großartigen Arbeiten zur deutschen Theatergeschichte: „Theater in Deutschland 1887-1945“ , ein Grundlagenwerk. Ohne ihn wären Marieluise Fleißer und Alfred Kerr kaum erkennbar geblieben. 25 Jahre war er prägender Redakteur im FAZ-Feuilleton, später beim Tagesspiegel. Frontenwechsler als Intendant in Frankfurt. Respekt soll ihm gezollt werden für etwas Außerordentliches, Unglaubliches, Einmaliges: Ein 96jähriger schreibt ein Tagebuch! Ein Mensch, der sein Leben mit kritischem Hinsehen, mit dem analytischen Blick auf die Bühne, verbracht hat, verliert die Sehkraft – „trockene Makula“ und die technisch-digitale Welt verliert ihre Konturen. Computertastatur, Radio, Faxgerät, CD-Plattenspieler, Mikrowelle mit ihrer Knopfleiste - „Auftauen“ - das zunehmend tastende Bewegen in der Wohnung, das alles muss bewältigt werden. Kleine Katastrophen zuhauf. Nun sieht er nur noch ein Ziel: „Ich wehrte mich gegen das Veraltern im Alter“, das Gefüttert-Werden, wie es den verehrten, großen klugen Köpfen widerfuhr, Walter Jens und Joachim Kaiser. Nun kämpft er gegen das „Ent...“, entbehren, entsagen, enthalten – bis zum entsorgen? Währenddessen strömen die Erinnerungen an die Kindheit, die Kollegen, die Künste. Er schreibt ein in des Wortes erster Bedeutung „merkwürdiges“ Tagebuch, vom Oktober 2020 bis zum 27. April 2021. Uneitel, voller Anekdoten, mit ironischer Milde, anti-narzistisch, verstört, aber klaglos, plötzlichen Kindheitssignalen, alltagsreal: „Seit ich nicht mehr lesen kann, haben die Tage mindestens 47 Stunden.“ „Das Altern ist eine Blüte der Hoffnungen im Zustand des Schrumpfens. Ich habe mich heute in ein Schwimmbecken von Hoffnungen gestürzt und jetzt läuft irgendwo das Wasser weg...“ Gerhard Ahrens hat aus allem ein „Tagebuch“ werden lassen, gerahmt, mit Anmerkungen gestützt und herausgegeben samt einem Nachwort „Der andere Günther Rühle“ - eine des Dankes werte Assistenz! Wie mag es Günther Rühle heute gehen? Er ist Jahrgang '24...Im Alter nicht veralten! Danke für diesen Anstoß! Helmut Ruppel
232 Seiten
22, 90 Euro

Lizzie Doron. Was wäre wenn
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Deutscher Taschenbuchverlag
Es heißt, Juden seien Menschen wie alle anderen auch – nur ein wenig mehr. Das ist nicht überheblich, sondern selbstironisch, wie überhaupt kein Volk der Erde sich mit seinem Witz so umfassend über sich selbst lustig macht wie das jüdische. (Das kann auch gefährlich werden, wenn Antisemiten anfangen, jüdische Witze zu benutzen...) Im Alter veralten? Das kann nicht sein für Lizzie Doron, deren so mündliches, so fragendes, so streitendes, so herzzereißendes, so liebendes Buch wir hier vorstellen, nein, Ihnen ans Herz legen wollen. Sie ist 1953 in Tel Aviv geboren (heute mit Zweitwohnsitz in Kreuzberg) und erzählt mit ihrer Lebensgeschichte die Geschichte des Staates Israel. Dieses Viertel in Tel Aviv hat sie geprägt: „...in dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, geht man nicht verloren. Der Mann aus Sobibor kennt die Frau aus Bergen-Belsen gut, und sie bringt mich zu der Frau aus dem Ghetto Krakau, die mich schließlich zu der richtigen Mutter aus Auschwitz zurückbringt.“ Ihre Eltern sind Schoah-Überlebende, vor allem mit der Mutter bringt das Generationenkonflikte. Lizzie – in der Grundschule wurde aus Elisabeth Alisa, später Lizzie – ist träumend-leidenschaftliche Zionistin und gerät mit der Mutter aneinander: „Ein unsagbar schönes Leben liegt vor uns, und nur meine Mutter verdirbt die Stimmung. 'Was ist denn würdiger als die Heimat?', halte ich ihr vor. 'Wem sonst sollen wir unser Leben widmen?' ' Wenn...', sagt sie, aber ich fahre ihr gleich über den Mund. Ich weiß, sie will sagen, wenn ich im Holocaust gewesen wäre, würde ich sie verstehen. 'Ist es das, was du willst?', stichle ich. 'Dass ich auch an deinem Holocaust teilnehme?' ' Die Mutter, traumatisiert, der Erinnerungen voll und von Opfererfahrungen gezeichnet – die Tochter, bereit zu Stärke, Aufbau, Verteidigung und Überlebensenergie – die Generationen dürfen nicht zerreißen! Ein Anruf aus dem Krankenhaus versetzt den Alltag in heftige Schwingungen, Yigal, die frühe und nie ganz vergessene Liebe, liegt im Sterben und bittet um eine letzte Begegnung. Yigal, er war Nähe und Horizont aller Wünsche und Träume, mit dem Zeug zum Generalstabschef und heute Friedensaktivist. Er wird sterben und sie geht aus dem Krankenzimmer, sein „Danke“ im Ohr, und sagt“ 'Bye' - als würden wir uns morgen wiedersehen.“ Damit beginnt das Buch der Erinnerungen, der Lebenskorrekturen, Kriegserlebnisse, der vielen Lebensschwingungen in einem kleinen Land, dem die Schatten der Vergangenheit die Horizonte der Zukunft noch immer nicht leuchten lassen. Lizzie Doron erzählt unbeirrbar, unbezwingbar, unbeeinträchtigt, zutiefst menschlich, geschwisterlich und mit unverwandtem Blick auf eine mögliche Mitarbeit am Frieden. „Wenn ihr es wollt, ist es kein Märchen“, war die zionistische Verheißung, „Was wäre wenn...“ bleibt die Aufgabe. Hat heute Lizzies Doron eine Zweitwohnung im Westberliner Kreuzberg, weil ihre Mutter noch in Polen von einem Studium in Berlin träumte, so verbindet Barbara Honigmann mit Ostberlin ihre Kindheit, Schulzeit, Studium und erste berufliche Praxis. Ein wenig kennen wir die Ostberliner Situation der Kinder zurückkehrender jüdischer Emigranten aus den Büchern von Irina Liebmann. Helmut Ruppel
144 Seiten
18 Euro

Barbara Honigmann. Unverschämt jüdisch
Hanser Verlag
Die Eltern kamen als Juden aus englischem Exil zurück und gingen wie selbstverständlich in das „andere Deutschland“ mit seinen kleinen nichtjüdisch-jüdischen Gruppen. Heute wohnt Barbara Honigmann in Straßburg, deren jüdische Gemeinde ihr wohltut. Welcher Strömung innerhalb des dialogfreudigen Judentums gehört sie an? Liberal ? Modern-orthodox ? Darauf geht sie in einem wunderbaren kleinen Text ihres neuen Buches ein: Das Buch sammelt Dankesansprachen, deren Anlass Preisverleihungen waren, von denen sie viele erhalten hat, so viele, dass ein eigener Band sie sammeln konnte. Mit selbstgewisser Mündlichkeit spricht sie über Menschen, Themen und Orte, die mit den Auszeichnungen verbunden waren. Darunter auch den kleinen Text „ Das Problem mit der Kopfbedeckung“. Sie fühlt sich einer Gruppierung nahe, die schomer mitzvot in der Lebenspraxis üben, „ das heißt, uns ohne übertriebenen Eifer darum darum bemühen, die Gebote und Verbote zu beachten.“ Dabei werden sie Grenzgängerinnen zwischen den tonangebenden Traditionen – ein sehr bewusst gelebtes Judentum. Dem entsprechen viele der Reden, mag es um Ricarda Huch oder Elisabeth Langgässer gehen, um Jakob Wassermann oder das Paar Kafka und Proust, um „Erinnerung und Erzählung“, stets steht die Frage nach dem „un-verschämten“ Judentum im Zentrum. Sartres „ Betrachtungen zur Judenfrage“ waren 1963 bei Ullstein erschienen, das Bändchen wurde von West- nach Ostberlin durchgeschmuggelt und die vierzehnjährige Barbara Honigmann entdeckte, dass der Titel „Juif inauthentique“ mit „verschämter Jude“ übersetzt worden war. „Inauthentique“ ist nicht „verschämt“ - sondern „authentisch“, besser: kräftiger, klarer „un-verschämt“! „Wahrscheinlich ringe ich seit meiner Lektüre dieses Buches als 14jährige damit, mein Judentum, in das ich hineingeboren wurde, un-verschämt zu leben und schließlich, erwachsen geworden, auch so davon zu sprechen, zu erzählen, zu schreiben“. Und angesichts der erworbenen Selbstgewissheit und ausstrahlenden Freude, mit der sie das tut, kann man sich nur verbeugen, ihr zuhören und viel von ihr lernen! Vielleicht auch die charmante Gelassenheit? „1700 Jahre Judentum in Deutschland“ – welch ein Geschenk! Helmut Ruppel
159 Seiten
20 Euro

Ljudmila Ulitzkaja. Eine Seuche in der Stadt
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Hanser Verlag
Es ist Pandemiezeit, man bleibt besser zu Hause. Ljudmila Ulitzkaja nutzt die Zeit zum Aufräumen alter Papiere. Da fällt ihr ein Manuskript von 1978 in die Hände, „Tschuma“, heißt es , „Die Pest“ - ein Pestausbruch in Moskau, der dank einer dichten Schweigemauer und des extrem effizienten NKWD nahezu unbekannt geblieben. Der Vater einer Freundin war als Pathologe an den Ereignissen beteiligt – er erzählte davon...und Ulitzkaja als interessierte Genetikerin nahm den Stoff auf, entwarf ein „Szenario“ und bewarb sich damit für einen Drehbuchkurs. Der Text verschwand in der Schublade – bis sie ihn wieder entdeckte, sehr zeit-gerecht, überaus aktuell. Da aber gerade Camus' „Pest“ ständig gedruckt wurde, bekam Ulitzkajas „Tschuma“ den Titel „Eine Seuche in der Stadt“; sehr zutreffend und mit dem Wort „Seuche“ dicht an der drohenden Moskauer Katastrophe. Karl Schlögel hat in „Traum und Terror“ die Jahre 1938/39 in der UDSSR mit ihren alptraumhaften Prozessen und Säuberungen beschrieben. „Schwarze Raben“, die Verhaftungswagen des NKWD fuhren zu vielen Adressen, zu denen der schon Infizierten und zu denen der bald Inhaftierten. Die Prozess-Schatten fallen auch in die Pestbekämpfung. Was war geschehen? Ein Forscher hatte sich, irritiert durch einen Anruf, der ihn nach Moskau beorderte, unversehens angesteckt, war auf der Reise vielen Menschen begegnet, in Moskau mit Kollegen Gespräche geführt, erkrankte augenfällig und allen Beteiligten war klar: Pest! Mit unvorstellbarer Rasanz geschieht nun eine Totalabsperrung, sämtliche denkbare Quarantänemaßnahmen werden ergriffen, die Kontaktverfolgung des Infizierten vollzieht sich mit dem NKWD-Apparat perfekt und hocheffizient. Spätestens jetzt ist es unmöglich, beim Lesen zu unterbrechen. Dann tritt auch ein „Sehr mächtiger Mann mit georgischem Akzent“ auf, der kabarettreif sagt: „Gut! Wir helfen. Bei den Listen und auch bei der Liquidierung'. Der Volkskommissar erstarrt. 'Nein, nein, es geht nur um Quarantäne. Nicht um Liquidierung'“ Es gibt groteske wie beklemmende Szenen. Der vollständige Staatsapparat wird vorgeführt, noch immer ein Alptraum. Es gibt Helden, Bösewichte und Ungerührte. Der Text ist keine Blaupause für heute, dennoch geben wir Ljudmila Ulitzkaja das Schlusswort „Die Welt verändert sich auf unvorhersehbare Weise, und ich hoffe, dass diese neue Prüfung...uns nicht noch weiter voneinander trennt, uns nicht noch egoistischer macht, sondern im Gegenteil zu der Ansicht führt, dass es in der globalisierten Welt zu viel Hass und Brutalität gibt und zu wenig Solidarität und Mitgefühl. Das aber hängt von uns ab.“ Helmut Ruppel
112 Seiten
18 Euro

Die Bibel und ihre kühnen Geschichten, Das 1. Buch Mose, für Kinder zwischen 12 und 120 Jahren
Erzählt und illustriert von Peter von der Osten-Sacken
Kulturverlag Kadmos
Eine Geschichte zu erzählen bedeutet, all die Bruchstücke der Welt – Erfahrungen, Träume, unverhoffte Begegnungen, gelungene Zeiten des Glücks – zusammenzufügen. Das gelingt am ehesten mit einem liebevollen Blick, einer behutsamen Zuwendung. Die erste Leistung einer Erzählung ist, dass sie Entferntes herbeiholt. Geschehenes in die Gegenwart holt. Geschieht das bei biblischen Geschichten und wird die größte Unfallursache beim Erzählen, die gute Absicht, vermieden, kommt es zu lebhaften Entdeckungen. Das ist geglückt in diesem Band. Nacherzählen heißt neu erzählen und so heißt es zu Beginn: „Für Leo, Carlo und Hannah“, Enkel sind oft erste Adressaten...Ein jüdischer Geburtstagsglückwunsch heißt „Auf 120 Jahre!“ - so wird die Erzählung allen Altern empfohlen! Man möchte gleich den Eingang „Der erste Tag der Schöpfung“ zitieren, weil mit dem „Anfang“ schon der erzähllustige, mithörend-fragende, lehrend-heitere, Kenntnis verschenkende, liebevoll-deutende, Antworten erprobende und mit suchbereit-erstauntem Humor der Ton angegeben wird. Nie „gute Absichten“, nie fade vorhersehbar, im Gegenteil: mit solidarischer Detektivarbeit beim Begreifenwollen, beim lupennahen Mitlesen ist der Erzähler den Mithörenden nahe und weiß manchmal selber nicht, was „hat es zu bedeuten“. Der Erzähler als Mithörer, der nie das Perfekt wählt und damit alles weiß, sondern das Im-perfekte, das Unabgeschlossene scheint ihn wie die Lesenden nicht loszulassen. Da gibt es bei den sieben Schöpfungstagen so viel zum Kopfschütteln und Kopfnicken, Kopfsenken und Kopfheben, dass man nur rufen kannn: „einen Einser für den Schöpfer der Welt!“ Es wird auch oft leise beim Erzählen, ein verschwebendes Schweigen...Man hat gesagt, Literatur gründe auf liebevoller Zuneigung, ja, und hier kommen die von Behutsamkeit erfüllten, zärtlich hingetupften, dazwischen geschubsten Illustrationen hinzu, die vieles anschaubar, ansehnlich machen. Der Ordinarius, der „Hoch“-schullehrer für Neues Testament und Jüdische Studien, verlässt seinen Lehrstuhl und setzt sich in den Kreis jüngerer und älterer Zeitgenossen, hört mit, denkt mit und teilt mit - hier und da aus dem Schatz des Erlernten - zu Nutzen und großer Freude aller Generation. Helmut Ruppel
153 Seiten
19,90 Euro

Irena Veisaitė und Aurimas Švedas. Ein Jahrhundertleben in Litauen
Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig
Wallstein Verlag
Der Wilnaer Historiker Švedas führte 13 Gespräche mit der kulturellpolitischen Stimme Litauens, Irena Veisaité, die jeweils schöne Titel haben - „Die Überlebenden haben die Pflicht zu vergeben und die Zukunft aufzubauen“ oder „Die Arbeit war für mich eine Mission.“ Persönliche Bilder sind eingestreut und am Ende steht ein Text „Anstelle eines Epilogs“ mit dem sympathischen Eingeständnis: „Mir kommen immer mehr Fragen – und immer weniger Antworten.“ Um es vorweg zu sagen: Das Buch ist so spannend geschrieben, dass es unmöglich erscheint, nur einmal eine Pause einzulegen. Irena Veisaité hat zwischen dem 9. Januar 1928 und dem 11. Dezember 1920 ein Jahrhundertleben geführt, das alles in sich aufgenommen hat, was dieses Jahrhundert geprägt hat – gleich einem langen Fries der wichtigsten Ereignisse in Bildern, einem Gobelin gleich, dem die historischen Umstürze und Wellen, Abgründe und Aufbrüche eingewoben sind. „Überleben, um zu erzählen“, diese Intention verbindet sie mit Ruth Klüger, die zwei Monate vor ihr starb. Dem Wallstein Verlag verdanken wir: Zwei Zeuginnen des Jahrhunderts, deren Lebensgeschichten einen unverkennbaren Trotz, einen unbändigen Willen zum Unbesänftigtsein aufweisen angesichts der Aufgaben zu erinnern, zu erzählen, zu bezeugen, was geschah. Das Kindheits- und Jugendkapitel - „Das Leben sollte klar sein“ erzählt vom frühen unlösbaren Verflochtensein in eine jüdische und litauische Herkunft. Bei einer Reise mit dem Vater nach Berlin, verweist er sie auf die öffentlichen Bänke mit rassistischem Sitzverbot und schärft ihr ein, Platz zu nehmen, obwohl sie „litauische“ Papiere hatten, die nichts von ihrem Judentum sagten – eine unvergessliche Erfahrung. Das Literaturhaus Berlin zeigt im Internet ein Gespräch Irena Veisaites mit Aleida Assmann und der Übersetzerin Claudia Sinnig, der wir viele Entdeckungen litauischer Literatur verdanken, in dem diese Jugenderfahrung zeichenhaft für ein ganzes Leben steht. Aleida Assmann stellt diese Szene vor das ganze Leben: Sie lebe in einem „Erinnerungsexil“, wen interessiere jüdisches Leben in Litauen...? Mit dem Einmarsch von Wehrmacht und SS in Litauen im Juni 1941 musste sie mit Tante und Großeltern ins Ghetto Kaunas umsiedeln. Die schwerkranke Mutter gab ihr in der Klinik den letzten Lebensratschlag: Sie solle selbstständig sein, mit der Wahrheit leben und nie Rache üben. Nun liegen dies intensiven Erinnerungen einer Frau vor, die mit 13 Jahren in der Untergrundschule im Kaunaer Ghetto Schillers Balladen lernte, unter der Diktatur der SS bis zum Umfallen Zwangsarbeit verrichten musste, als Studentin über Heinrich Heine promovierte und mit den Jahren sieben Sprachen sprach. Sie überlebte nach der Flucht aus dem Ghetto im Schutz einer litauischen Familie, die sie mit der Zeit als Familienmitglied anerkannte – sie sprach ohne jiddischen Akzent. Nach dem Sommer '44 kam die „zweite Besetzung“, aber auch die Befreiung zum Leben und Lernen. Um sie kümmerte sich niemand, es gab ausschließlich sowjetische Opfer des Faschismus. Sie studiert in Moskau und Vilnius und lehrt alsbald Literatur und Theatergeschichte. Im Jahr der Unabhängigkeit ist 62 Jahre, hat zwei Diktaturen überlebt und hat Mühen, die zwei Geschichten zu erzählen: Die der Kollaboration von Teilen des Volkes mit Nazideutschland und der Zeit unter Sowjetherrschaft. Es war ihr immer wichtig festzuhalten, wie zerbrechlich Moral, Kultur und Menschlichkeit sein können, droht ihnen die politische Macht. Sieht man die Seiten „Lebensdaten“ durch, fragt man, welche Auszeichnung, welchen Orden und welche Ehrung sie nicht erhalten hat; doch hört man ihr zu, ist die größte Ehrung, ihr zuzuhören, ein „Jahrhundertleben in Litauen“ wahrzunehmen. Helmut Ruppel
428 Seiten
24€

Anatoli Pristawkin. Schlief ein goldnes Wölkchen
Übersetzt von Thomas Reschke. Mit einem Nachwort von Navid Kermani
Aufbau Verlag
Navid Kermani, auf seinen Reisen wohlvertraut mit der Region, hält mit tiefer Erschütterung fest, wie es dem Autor gelingt, beim Lesenden Hunger nachzuempfinden bis die Magenwände schmerzen. Die Geschichte der Waisenkinder und Zwillinge Saschka und Kolka auf ihrer Deportation mit anderen Moskauer Waisen nach Tschetschenien ist so mikroskopisch dicht, so unentrinnbar nahe erzählt, dass einem der Atem ständig stockt. Mit sprachloser Bewunderung nimmt man die Anstrengung wahr, den Tschetschenen gerecht zu werden – ein totales Tabu in der UDSSR. Am besten, man beginnt gleich mit Michail Lermontow, zweimal in den Kaukasus verbannt, ihm ist die lyrische Titelzeile zu verdanken. Die Veröffentlichungsgeschichte des Bandes ist schon selbst ein Elend. Navid Kermani ist die vorliegende Buchform zu verdanken. Tschetschenien, die Moskauer Waisen, der Hunger, der Kaukasus, Pristawkin und das Buch – unbegreiflich, aber lesen können wir es. Helmut Ruppel
319 Seiten
22€

Lew Rubinstein. Ein ganzes Jahr. Mein Kalender
Hrsg. von Susanne Strätling und Georg Witte
Friedenauer Presse
Hebel und Brecht sind die großen Meister deutscher Kalendergeschichten – kunstvoll knapp, überraschend unüblich, verblüffend und verwegen, zwischen Aphorismus und Wälzer die Traumform. Politisch und kapriziös zugleich, das gibt's nur einmal. Kein Heiligenkalender, kein Mondkalender, kein Terminkalender, kein Jahreszeitenkalender, sondern "Ein ganzes Jahr. Mein Kalender". Nur ein Beispiel: „Juni – 18 – 1936. Tod des russischen und sowjetischen Schriftstellers, Dramatikers und der Person des öffentlichen Lebens Maxim Gorki. - Im Schulflur hingen Klassikerporträts, darunter auch Gorki. Gorki hatte einen erstaunlich traurigen und weinerlichen Gesichtsausdruck. Immer wenn Smirnow daran vorbeiging und das Porträt anschaute, sagte: „Nicht weinen, Gorki, nicht weinen. Willst du ein Bonbon?“ Alle lachten bereitwillig. Ich auch.“ So bitterlustig kann ein Bücherbrief nicht enden. Wir beginnen noch einmal mit einer Notiz Anton Tschechows in seiner Erzählung „Das Glück“. Zwei Hirten und ein Aufseher verbringen die Nacht in einer endlosen Steppe. Die Hirten erzählen sich vom Glück, das im Finden, im Aufspüren unvorstellbar großer Goldhaufen besteht. Der Aufseher schweigt; er hat offensichtlich eine andere Vorstellung vom Glück. „Sein strenges Gesicht war traurig und spöttisch, er schien enttäuscht.“ Einmal sagt er über die Möglichkeit des Glücks: „Ja, der Ellenbogen ist nahe, aber versuch mal reinzubeißen."
448 Seiten
32€

Gaito Gasdanow
Gaito Gasdanow. Schwarze Schwäne. Erzählungen
Ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort von Rosemarie Tietze
Carl Hanser Verlag, 271 Seiten, 24€
Gaito Gasdanow. Nächtliche Wege. Roman
Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Christine Körner
dtv Verlag, 288 Seiten, 10.90€
„Es gibt Bücher, denen man nur seine Liebe erklären kann. 'Schwarze Schwäne' ist so ein Buch“, diesen glückseligen Stoßseufzer (Juliane Liebert) kann man steigern mit dem Hinweis, dass es „nur“ neun Erzählungen sind von den 50 veröffentlichten, wir also 41 noch erwarten dürfen – wenn Rosemarie Tietze ihre Schatzgräberinnen-Arbeit fortsetzt! Ihre jeweiligen „Anmerkungen“ zu den neun Erzählungen sind kenntnisreich, literaturgeschichtlich einordnend, erhellen die Hintergrund und Entstehungssituationen, helfen bei philologischen Verstehensproblemen. Das Nachwort „Erlebtes und Erdachtes, Kurzprosa aus einer russischen Emigrantenwelt“ ist eine glänzende Einführung in Leben, Werk und Lebenswelt des Gaito Gasdanow, von dem die deutsche Literaturwelt zu ihrem eigenen Schaden so lange nichts wusste! Mit den, Sommergewittern gleich, in unsere Literaturwelt (und unsere Russlandbilder!) hereinbrechenden Romanen „Ein Abend bei Claire“ und dem „Phantom des Alexander Wolf“, gab es schon einen unerhörten Auftritt. Das Gesamtwerk enthält auch Erzählungen vom „Russischen Montparnass“, dem Montblanc der russischen Exil-Autoren in Paris der frühen zwanziger Jahre. Iwan Bunin, Marina Zwetajewna, später Vladimir Nabokov, kamen mit einem Namen -wer kannte Gasdanow? Er hatte zwar schon ein windungsreiches Leben hinter sich – Kindsoldat bei den „Weißen“, Abiturient in Bulgarien, hingebungsvoller Student und gleichzeitig Nachttaxifahrer in Paris, den Autorentreffpunkten „Grüne Lampe“ und „Nomadenlager“ (!) zugehörig – aber: wer kannte Gasdanow? Im „Verband russischer Chauffeure“ (1200 Mitglieder) kannte man ihn gewiss, aber literarisch? Erst der „Abend mit Claire“gab ihm (1929/30) einen Namen, später mit Nabokov im gleichen Atemzug erwähnt zu werden. Rosemarie Tietze erzählt und übersetzt, erläutert und betreut seine „Schwäne“ wie Christine Körner seine „Nächtlichen Wege“, einen Roman, aus dem auch 7 bis 9 Erzählungen komponiert werden könnten. Ihre Anmerkungen sind sehr hilfreich und ihr Nachwort machte sich exzellent als Vorwort: „Die fremde Stadt in einem fernen und fremden Land. Nächtliche Wege durch die Welt des Absurden.“ Wenn es Bücher gibt, denen man nur seine Liebe erklären kann, und die „Schwarzen Schwäne“ gehören gewiss dazu, sollten doch wenige Sätze darüber hinaus laut werden. Vielleicht aus der „Genossin Brack“, einer Frau, die in der falschen Zeit lebte, aber zu den Frauen gehörte, „die imstande seinen, eine Epoche zu verkörpern,“? Vielleicht aus den „Hawaiigitarren“, wo wir uns in einem Salon wiederfinden, der einer „vielleicht dreißigjährigen Dame“gehört, bei der man nach einer Beerdigung auf morastigem und nebligen Friedhof zusammensitzt und Champagner trinkt, „um zu vergessen.“ Vielleicht aus „Hannah“, wo es mit genial warmherziger Illusionslosigkeit heißt: „Mir gehörte das allerbeste, wovon ich nur träumen konnte. Hannahs warme Haut, ihre erstaunliche Stimme, ihre zärtlichen Hände. Das war einzigartig, war grandios, hatte nur den einzigen Nachteil, dass es Realität war.“ Helmut Ruppel

Jay Howard Geller. Die Scholems. Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie
Suhrkamp und Jüdischer Verlag
Ein Familienroman? Der Titel erinnert an die Buddenbrooks, Die Brüder Karamasow, Gruppenbild mit Dame; ein Mehr-Generationen-Roman? Gershom und seine Brüder? Das Buch beginnt wie die Buddenbrooks mit einer Familienaufstellung. Aber: Der Autor Jay H. Geller ist Professor für politische Geschichte an der Universität von Cleveland, Ohio, US, und hat zuvor quellenreiche Studien über Juden in Deutschland vorgelegt. Was genau ist dieses Buch also? Eine lebhaft dramatische Familienbiographie oder eine brillant präzise Sozial- und Mentalitätsgeschichte des deutschen Judentums? Die große und beglückende Überraschung besteht in der gelingenden Zusammenfügung, in dem spannungsvollen Verweben beider Erzählstränge: Familie und Fachanalyse, der liebevollen Nachzeichnung der höchst eigenwilligen Brüder und ihrem untrennbaren Zusammenhalt, dem Bild der alles zusammenhaltenden Mutter, vor allem der Söhne mit ihrer nicht zu dämpfenden Widerborstigkeit gegenüber den Eltern und einander – da sind: ein glühend liebender Erforscher jüdischer Mystik, ein hitzköpfiger kommunistischer Reichstagsabgeordneter, der beim Familienfest zum Kaisergeburtstag „Hoch Liebknecht!“ ausruft und vom tobenden Vater, einem von Grund auf konservativen, deutschen Juden des Kaiserreiches, vor die Tür gesetzt wird, ein national-liberaler Geschäftsmann, der im australischen Exil noch in den Krieg gegen Deutschland eintreten würde und ein national-konservativer, säkular gesinntenr Bruder, der jedoch in der jüdischen Tradition beerdigt werden will – und deren Gattinnen… Dies pointiert gezeichnete Familienporträt setzt der Autor in das kulturpolitisch sorgsam ausgemalte Landschaftsbild der Jahre vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, in der fast keine Spuren mehr der Scholemschen Familiengeschichte zu finden sind – im Gegensatz zu den fast nicht mehr überschaubaren Hindenburgstraßen und Hindenburgplätzen...
Wie es Geller gelingt, diese Kapitel voller Zahlen, Ereignisse, Orte und Widerfahrnissen mit den Fäden der auseinanderstrebenden Lebensläufe zu verknüpfen, ist bewundernswert und lässt uns nur mit Herzklopfen umblättern. Angesichts der bewegenden Lebensbilder lernt man den datendichten Kontext und die genau gesetzte Zahlenfülle mühelos mit. Die Übersetzerin Ruth Keen und der Bearbeiter Erhard Stölting haben gewiss ihren Teil zum Narrativen einerseits und zum Dokumentierenden andererseits beigetragen. Die 130 gedrängten Seiten Anmerkungen sind eine vorzügliche Anleitung, mehr noch, eine verführerische Anleitung zum Geschichtsstudium in einer Stadt wie Berlin.
Geller gewinnt seine erzählerische Einfühlungskraft, Aura, Töne und Farben aus dem herzbewegenden Briefwechsel, an den wir hier noch einmal erinnern: Betty Scholem-Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel 1917-1946 und der unvergleichlichen Berliner Kindheit um 1900 von Walter Benjamin. Die Erzähl- und historische Entfaltungsmelodie kann sich dem Satz Kafkas nicht entziehen, der in genialer Verdichtung das Judentum begreift, sich begreift: „Sein bedeutet im Deutschen beides: Dasein und Ihm gehören“. Das und ist das Offenbare des Judentums: Im Dasein, in der Welt sein und Gott allein gehören. Da ist wohl der Grund des Verhasstseins, das Nie-Eingehen in eine andere nationale, politische, ideologische oder kulturelle Für-Immer-Bindung. An der Scholem-Geschichte kann man es sehen und lernen: In der Welt leben und ausschließlich Ihm gehören – mit allem Schmerz und Verfolgung und nie aufzugebender Bindung an Ihn...Geller erzählt und entrollt historisch ein weiteres Mal diese Lektion, Zeile für Zeile.
„1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ - gegenwärtig wird es mehr beschworen als erinnert. Dieses Buch nimmt es im buchstäblichen Sinne wahr. Helmut Ruppel
463 Seiten
€ 25

Benjamin Ferencz. Sag immer deine Wahrheit. Was mich 100 Jahre Leben gelehrt haben
Heyne Verlag
"9 Lessons for a Remarkable Life", der originale Titel macht es einerseits noch hörbarer, das bemerkenswerte Leben, das Ferencz keineswegs trumphaft meint, sondern mit viel Ironie und Schalk, während der deutsche Titel Sag immer deine Wahrheit ihn, Ferencz, treffend zur Sprache bringt. Unter den Hundertjährigen, die gegenwärtig die literarische Welt bevölkern, ist er derjenige, der am meisten erlebt und zu erzählen hat, lebhaft, liebenswert schnoddrig und in weiser Weise hilfsbereit – ein 160 Seiten starkes wohltuendes Schmerz- und Stärkungsmittel, dreimal am Tag 5 große Esslöffel, ohne Cortison, pardon, 20 Seiten täglich, bei umwerfend bester Laune und sehr ernst – eine Mischung, zu der man wohl 100 Jahre braucht. Als Kind muss er schon so gewesen sein. Von wem ist die Rede?
Der Einwanderungsbeamte auf Ellis Island fragte die Eltern, nach einem Blick in das Babykörbchen, „Name?“ Die Eltern konnten nur Rumänisch und Jiddisch und sagten Berell. Der Beamte verstand Bella, blickte wieder ins Körbchen und entschied „4 Monate“. So wanderte Benjamin Ferencz unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in die Vereinigten Staaten ein als vier Monate altes Mädchen. Das erfuhr er durch Zufall an seinem 84. Geburtstag.
Da hatte er schon einiges Bemerkenswertes getan für sein Land? Ja, auch, mehr aber für die Menschlichkeit allerorten, vor allem aber als Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen bis zur Gründung des internationalen Strafgerichtshofs. Die Kapitelüberschriften reihen Köstlichkeiten aneinander: Die Augen offen, die Hände am Steuer (Schlusskapitel! Er ist Hundert!), Über die Wahrheit – sprich sie aus, auch wenn niemand zuhört, Man muss nicht mit dem Strom schwimmen, Der Weg ist immer steinig und führt niemals geradeaus, Es gibt Wichtigeres, als die Welt zu retten. Ferencz lebte, handelte, schrieb und prozessierte nach einem Prinzip: Wenn es um Menschlichkeit geht, gib es kein Wenn und Aber. Es durchzieht das Buch des Hundertjährigen wie ein Wärmestrom: Wie heilt man ein gebrochenes Herz? Diese Frage ähnelt der nach einer friedlichen Welt. Es gibt auf beide eine 10 Bände umfassende Antwort und eine, die nur aus einem Wort besteht: langsam. So erzählt er dahin: klug, warmherzig, erfahren und freundlich. Über seine Frau sagt er: "Dass ich ihre Zuneigung gewonnen habe, betrachte ich als meinen wichtigsten Sieg". Wir verdanken auch ihr dieses Buch! In Stunden der Einsamkeit, der Resignation und der Enttäuschungen zu Ferencz greifen, denn er kann einen Rat geben! "Die besten Eigenschaften, die ein Mensch haben kann, sind Redlichkeit, Warmherzigkeit und Toleranz. Tu niemals etwas, für das du dich schämst!"
Helmut Ruppel
160 Seiten
17€

Mit den Augen von Zeitgenossen: Erinnerungen an PAUL CELAN. Herausgegeben von Petro Rychlo
Suhrkamp Verlag
Von den Spielgefährten aus der Nachbarschaft in Czernowitz bis zu den Zeitgenossen, die von seinem Tod erfahren, versammelt Rychlo 55 Stimmen (!) aus den Phasen und von den Orten seines Lebens, darunter ein Bericht über seinen Berlin-Aufenthalt im Dezember 1967, zu dem, wie Marlies Janz sich erinnert, „eine Fahrt durch das verschneite Dahlem über Grunewald und Halensee und hinunter (!) zum Savignyplatz“ gehörte. Eine Lesung in der vollbesetzten Akademie der Künste konnte ich besuchen, erinnere mich aber an kein Gedicht, nur an den schmalen, gebeugten Mann, der mit einer schmalen Aktentasche die Stufen zur Bühne etwas mühsam hinaufstieg und dann mit einer halb singenden Stimme zu lesen begann.
Es sind die Lebensorte Czernowitz, Bukarest, Wien und Paris, die Celans Leben prägten, unter denen Czernowitz in den sechziger Jahren fast eine mythische Bedeutung hatte; vom Bukarester literarischen Leben wusste man nichts – diese Orte und ihre Büchermenschen zu erschließen, kommt für uns der Entdeckung literarischer Provinz gleich. Jacques Derrida, Paris, und Ilana Shmueli, Jerusalem, sollten hervorgehoben werden, was gegenüber allen anderen Stimmen ungerecht ist, pardon, doch ist ihr Blick auf Celan, seine Sprache und seine Bilderheimat unvergleichlich eindringlich. Rychlo fügt einen hundertseitigen Kommentar hinzu, sein unverwechselbares Celan-Bild, geprägt vom lebenslangem Wohnen in Celans Werk und an seinem ersten Ort. Helmut Ruppel
469 Seiten
28€

Jan-Heiner Tück. Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans Dichtung – eine theologische Provokation
Herder Verlag
Unter den Beiträgen des katholischen Dogmatikers in Wien sind hervorzuheben: Beten nach der Shoah und Totengedenken und Lobverweigerung. Er diskutiert die Frage, ob der Zyklus Niemandsrose eine Anti-Bibel ist. Für die Theologie ist Celans Dichtung gegenwärtig die ernsthafteste Herausforderung. Die Lobverweigerung ist eine elementare Anfrage an kirchliches, aber auch politisches Sprechen.
Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache - Wilhelm von Humboldts starker Satz vor der Berliner Akademie 1820 wird im Werk Celans deswegen so andrängend, weil ihm die Sprache ausgeht, was auch durch Übertreibung einer bloß kommunikativen Funktion und einen – digital verschuldeten – falschen Purismus nicht behoben werden kann. Der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant, früher Freie Universität Berlin, warnt vor einer Sprachdämmerung, weil nur eine globale Sprache Macht verspricht. Da kann eine gewisse heitere Souveränität im Umgang mit der Sprache geradezu erlösend wirken und aufatmen lassen. Wir wussten schon immer. An ihren Adjektiven sollt ihr sie erkennen und dass die rückhaltlosen Aufklärungen, die Frau Klöckner bei allen Lebensmittelskandalen versprach, schon mit dem Aussprechen jeden Rückhalt los waren. Helmut Ruppel
352 Seiten
28€

Die Familie Maar
Michael Maar.
Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur
Rowohlt Verlag, 658 Seiten, 34€
Paul Maar
Wie alles kam. Roman meiner Kindheit
S. Fischer Verlag, 304 Seiten, 22€
Paul Maar ist der einzige deutsche Autor, der im direkten Vergleich mit Donald Trump fröhliche, lebhafte Stürme auf das (Dahlemer Kino) Capitol erzeugen konnte, wo das kleine Sams zu sehen war, sein liebenswürdiges Kinderbuch. Gute Mär von Paul Maar, böser Krampf von Donald Trump. Hier hätte sein Sohn gleich eingegriffen, denn solche gezwungene Reime sind schlechter Stil! Und dem widmet er ein Stil-Lesebuch mit exemplarischen Texten von Knef bis Kafka und vielen Autoren aus seiner höchst privaten Lieblingsbibliothek. Lesen, Lernen und Lachen sind nun gerade keine literaturwissenschaftlich regierende Trinität in Deutschland! Sie aber lassen die Suche nach dem Geheimnis großer Literatur zu einer der bekömmlichsten Exkursionen für das lesende Publikum werden. Es beginnt (Dank an Eva Menasse!) mit dem Titel: So etwas von verunglückt!. Das ähnelt schon Und mit frischem Mut warf sie ihren Ring in den Hut! Von der Zeichensetzung über die Stilmittel - Die Instrumente zeigen zu den literarischen Provinzen – K.u. K - und dazwischen ein Literaturquiz als Verbeugung vor den Dauerquizsendungen des Fernsehens! Und immer wieder Urteile und Urteile, bei Nabokov sympathisch subtil, bei Kafka ein unerschütterbares Sehr gut!, Thomas Mann erhält schmerzendes Lob, Hildegard Knef ein verblüfftes Geht doch!, und eine – oijoijoi - Seitenexkursion in die erotische Literatur zu Bambi und der Wienerin Josphine M., beide Felix Saltens Feder entsprungen. Mich hat immer interessiert, wer wie warum gut schreibt. Hier ist Michael Maars gut geschriebene Antwort, mit einem Titelbild von Andre Derain, The Cup of Tea (1935). Anfang des Jahres spielte er mit Buchtiteln (Süd. Zeitung, 15.1.) und konstatierte, dass Die Unvernünftigen sterben aus (Peter Handke) leider ein leeres Versprechen blieb, Der Besuch der alten Dame (Friedrich Dürrenmatt) nicht erlaubt war, aber die Hoffnung blieb, dass einmal ein Abend mit Goldrand (Arno Schmidt) kommen könnte und wir alle sehen 'Licht im August (William Faulkner).
Die Altmeister Ludwig Reiners mit der Stilfibel und Wolf Schneider mit Deutsch , dem Handbuch für attraktive Texte (!) sind redlich und verlässlich, Michael Maar lädt ein zum Lesefest, frei vom Kanon und ohne Böll und Grass, ein Füllhorn auch zum Vorlesen, zuweilen mit einer Prise Altväterlichkeit, die würzt und bekömmlich ist.
Helmut Ruppel

Michael Krüger. Meterologie des Herzens. Über meinen Großvater, Zbigniew Herbert, Petrarca und mich
Berenberg Verlag
Krüger sagt, was viele seiner Generation (1943) auch sagen können: Suhrkamp war meine Universität, andere sagen Hanser ist meine Bibliothek, ob es mit den Akzenten begann oder mit Ecos Der Name der Rose oder der Gelben Reihe. Krüger erzählt in einem Interview mit Matthias Bormuth, wie eine (west-) deutsche Verlagsgeschichte verläuft, einst vertraute Namen (Lettau!) tauchen auf und bundesrepublikanische Krisen. Die so lebhaft wie anstrengende Freundschaft mit Zbigniew Herbert wird porträtiert und die Geschichte des Petrarca-Preises, Beispiel einer europäisch engagierten Literatur. Das Gebet-Gedicht „Herr, dank sag ich Dir für diesen Lebenskrempel“ ist ein ergreifender Höhepunkt des Bandes. Dank an Michael Krüger und dass ihm Lebenszeit geschenkt werden möge!
Helmut Ruppel
144 Seiten
20€

Kurt Marti. Hannis Äpfel. Gedichte aus dem Nachlass
Wallstein Verlag
Von dem Pfarrer, Erzähler und Lyriker Kurt Marti wird oft gesagt, er schreibe Theopoesie - eine gewundene Verlegenheit. Was wären dann die Psalmen? Theopoesie zeugt noch von der Spaltung in biblisches und dichterisches Sprechen, was schon immer falsch war. Marti intoniert die biblische Dichtung, was seine Predigten kräftigt und seinen Gedichten Klang, Farbe und vor allem Weisheit verleiht (Leichenreden). In den Texten aus dem Nachlass sind es die sehnsuchtsvollen Nach-Gedanken auf seine verstorbene Frau, das bittere Vermissen und die Klage über das Verlassensein: Doch jetzt bin ich/ohne dich/ nur noch vorhanden. Er erwähnt seinen Gott nur selten, denn der ist kein Lückenbüßer. Vor dessen Angesicht kann er noch - humorvoll und verzweifelt - über seine Lage klagen: bin nicht in der lage / bin fast nie in der lage /bin überhaupt / in keiner lage mehr /mein los/ heißt lagelos /wie werd ich /diese lage los? Der Band hat ein herzbewegendes Titelbild. Helmut Ruppel
90 Seiten
14, 90€

Katharina Raabe, Frank Wegner (Hrsg.) Warum lesen. Mindestens 24 Gründe
22 Euro

Colum McCann. Apeirogon
Rowohlt Verlag
angemessener Titel: Apeirogon, eine Figur mit einer zählbar unendlichen Menge Seiten, zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern für „unendlich“ und „Winkel“, bildlich zu erkennen als eine unendliche Menge von Rauten, die sich in leichtem Versatz ohne Ende wiederholen.
Diese geometrische Erzählfigur vermag nun das unzugänglichste, verminteste und intrikateste Erzählgebiet gegenwärtiger Literatur herantastend zu beschreiben: den israelisch-palästinensichen Konflikt. Der „wird erst vorbei sein, wenn wir reden.“ Zwei haben das unter Schmerzen begonnen:
Rami Elhanan, Jude, Israeli, Jerusalemer, Vater von Smadar, die mit 13 Jahren von einem palästinensischen Selbstmordattentäter ermordet wurde, und Bassim Aramin, Moslem, Palästineneser und Vater von Abir, die mit 10 Jahren von einem israelischen Grenzschützer erschossen wurde. Beide sind keine fiktiven Figuren, der Erzähler hat sie kennengelernt und die Erlaubnis erhalten, ihre Geschichten, ihre Welt, ihre Erfahrungen und ihre Friedensarbeit zu erzählen. Die Väter der toten Töchter werden nun „Brüder“ in dieser Welt der Scharfschützen, fliegenden Checkpoints, Dauerkontrollen, Mauern, Alarmsirenen, Notkeller, Steinehagel und Zerrissenheiten von morgens bis abends. Das Buch erzählt den einzigen sinnvollen Ansatz, nämlich auf das Siegen-Müssen zu verzichten, in 1001 Kapiteln: 1-499, in denen Rami mit seinem Motorrad zu einem gemeinsamen Treffen unterwegs ist; 499 -1, in denen Bassim auf dem Rückweg ist. Im Kapitel 500 in der Mitte erzählen beide ihre Geschichte, unterstützt von bewegenden Bildern. Kapitel 1001 erzählt die Entstehung.
In den „Schachtelgeschichten“ wird viel zusammengetragen von den Vogelzügen über dem Westjordanland, es gibt Erzählbögen von Theresienstadt nach Jerusalem, von Hamburg nach Beit Jala, der Schule Talita Kumi und dem Kloster Cremisan, Kluges über islamische Ästhetik und biblische Erzelterngeschichten, hundertfältige Facetten der Schoah, traumatische Erinnerungen an die Nakba. Rami und Bassam hätten allen Grund sich zu hassen - sie werden Mitglieder der Combatants of Peace - ihre verstorbenen Töchter weisen sie in ein anderes Leben, jenseits von Steinschleudern und Plutoniumkernen.
Mehr als 5 Jahre hat Colum McCann an diesem unbeschreiblichen Meisterwerk gearbeitet. Er kannte noch nicht die neuen trumpgestützten Verknüpfungen zwischen Israel und den arabischen Staaten, aufgrund derer die Palästinenser Totalverlierer sind. Seltsam, das Buch erschien im Februar 2020 in den USA, kurz vor dem Aufflammen der „Black Lives Matter“-Proteste. Man kann es nicht zusammenfassen; es ist ein uneingeschüchterter Appell zur Freundschaft über politisch-religiöse Grenzen hinweg, ein Lehrbuch über den Verzicht auf das Siegen-Müssen. Von Rami heißt es: „Er wollte die Zuhörer wachrütteln. Eine Regung sehen. Nur kurz. Ein sich öffnendes Auge. Das genügte schon. Einen Riss in der Mauer. Den Anflug eines Zweifels. Irgendetwas.“ Helmut Ruppel
25 Euro

David Grossmann. Was Nina wusste
Hanser Verlag
Wer andere Darstellungen hinzunehmen will: „ A naked Life“, Videogespräche von Danilo Kis mit Eva Panic-Nahir (1989) und „Eva – A Documentary“ (2003), auf YouTube abrufbar. Allen gemeinsam ist die Rückkehr an den Tatort Goli Otok, Titos Sträflingsinsel, die Hölle in der Adria. ( Eine kroatische Pflegekraft, von mir persönlich befragt, stieß ein „Böser Ort“ hervor, sagte kein weiteres Wort).
Was wusste Nina? 1951, nach dem Bruch zwischen Tito und Stalin, wurde ihr Vater wegen „stalinistischer Umtriebe“ verhaftet, gefoltert und in den Selbstmord getrieben. Ihre Mutter, Eva, wird vom kroatischen Geheimdienst erpresst; sie soll ihren geliebten Mann als Verräter brandmarken; so wird sie ihr Leben retten und mit ihrer Tochter in Freiheit leben. Verweigert sie dies, wartet Goli Otok auf sie und für die sechsjährige Tochter Nina „die Straße“... Und – sie entscheidet sich für ihren Mann und gibt die Tochter preis. Eva Panic-Nahir hat David Grossmann gebeten, diese „Familienvorstellung mit Dämonen“ (Axel Rühle) zu erzählen... Und er lässt dies beginnen am 90. Geburtstag Evas/Veras im Kibbutz, denn sie ist nach der „Hölle“ ausgewandert ins Gelobte Land Israel, wo die Generationen wieder zusammenfinden. An diesem 90. Geburtstag beschließen sie, das bisher Verschwiegene, Verdrängte und Erstickte auf einer Reise nach Goli Otok zu erinnern, ja, zu „erlösen“.
Zwei Bemerkungen zum Schluss neben der Versicherung, dass der Roman (?) schier alles enthält -
Kriegsberichte, Liebesepisoden, Familienzwiste, humorvolle Gefechte – die Lagererinnerungen werden in einer „dokumentierend-amtlich“ wirkenden Schriftart gedruckt, was die Intensität erhöht. Ein weiteres Wunder dieses Buches vollbringt die Übersetzerin Anne Birkenhauer. Jeden Anklang an ein schreckliches „Jiddisch-Idiom“ vermeidend, gewinnt sie ein Deutsch für die wohl kroatisch-jüdisch radebrechende Vera, das das Herz berührt – eine Meisterinnenarbeit!
„ Es wird erst vorbei sein, wenn wir reden“ - und wie sie reden: Vera, Nina, Gili, Grossmann, Birkenhauer – und wir haben das Glück, zuzuhören. Helmut Ruppel
25 Euro

Abraham B. Yehoshua. Der Tunnel
Nagel & Kimche Verlag
Und die Erzählung beginnt... Sie geht mitten in Israels gegenwärtige Geschichte, sie geht mitten in den Demenzverlauf, doch, dreimal unterstrichen: Es ist eine große Liebesgeschichte! „Ich wollte zeigen, dass Ehen auch halten können“, sagte Yehoshua in einem Interview. Die Dialoge zwischen dem Paar sind eine einzige Wohltat – es gibt von dieser Literatur so wenig! Und eine weitere Wohltat ist, zu lesen, dass viele Israelis kranke Kinder und schwache Alte, Kranke an den Demarkationslinien zu den besetzten Gebieten mit Autos abholen und in ein Krankenhaus bringen und nach Behandlungen wieder zurückfahren. Überhaupt das Krankenhaus: Ein Ort, wo Palästinenser und Israelis gut zusammen arbeiten. Das Krankenhaus – ein Ort der Zusammenarbeit, des Zusammenlebens, das habe immer funktioniert, sagt der Autor.
Und er gibt sehr vorsichtig-nachdenkliche Anstöße zur Demenz, privat, politisch, pragmatisch. Seine Frau (wieder sie!) fädelt ihn in ein Bauprojekt ein, – er war landesweit verantwortlich für Straßenbau - das er mit seinem jungen Nachfolger in der Wüste beginnt, womit „der Tunnel“ ins Spiel kommt, ein so abenteuerliches Projekt, dass man aus dem Staunen über Phantasie, Humor, Menschenliebe nicht mehr herauskommt. Seinem Buch gibt Yehoshua die Widmung:
„ Für meine Ika (1940-2016). Unendliche Liebe.“, denn er ist der „liebevolle Erzähler“. Seine Literatur gründet auf liebevoller Zuneigung. Zuneigung – die bescheidenste Form der Liebe, Sie zeigt die Menschen in ihrer Welt ineinander verbunden, voneinander abhängend, zusammen wirkend. Ein Vor-Geschmack dessen, was sein könnte. Helmut Ruppel
24 Euro

Gertud Leutenegger. Späte Gäste
Ein wenig von dieser vernebelnden Unfassbarkeit, dominanten Undeutlichkeit, exakten Unschärfe, sensiblen Verschwommenheit liegt über dem Buch: Die Erzählerin kehrt in ihre Heimat – so beklemmend wie vertraut – an der schweizerisch-italienischen Grenze im Tessin zurück, um Orion – Ehemann, Freund, Vater ihres Kindes, Lebensgefährte? - zur letzten Ruhe zu geleiten - unruhig war er ein Leben lang. Sie sucht das vertraut unverschlossene, aber menschenleere alte Hotel auf und eine Nacht der Erscheinungen hebt an, in der, der Fasnacht gleich, eine Fülle seltsamer Figuren auftauchen, darunter Flüchtlinge, die auf überfüllten Schlauchbooten sich an die Küste Siziliens retteten und sich jetzt im unwegsamen Zwischen-Grenzgebiet sammeln, die „späten Gäste“...
Alles spielt in einem Grenzgebiet zwischen den Ländern, den Erinnerungen, zwischen Tag und Nacht, Wachsein und Schlaf. Orion - sein Leben entschwebt und bleibt schwer entzifferbar.
„Es dunkelt schon, als ich den ovalen Platz unter den Bäumen betrete, nichts rührt sich. In der Tiefe liegt über der Lombardei ein von diffusen Lichtern erhellter Nebelschleier...“
Vielleicht noch bei Christa Wolf gibt es diese Aufforderung, sich einzulassen auf die Erzählerin, ihr Nachdenken und Erinnern, sich selbst dem Leben auszusetzen mit seinen karnevalesken Zügen, mitzudenken beim inneren Gespräch. „Jahre vergehen, und die Zeit heilt nichts. Sie macht uns nur mutig, unsere Erschütterungen zu tragen.“ Ein Buch, „zwischen den Jahren“ zu lesen.... Helmut Ruppel
175 Seiten

Iwan Bunin. Leichter Atem. Erzählungen 1916-1919
Nun war Bunin um die Jahrhundertwende ein geliebter und verehrter Autor, befreundet mit Maxim Gorki, bewundert und zum Lehrer erhoben von Vladimir Nabokov, mehrfacher Träger des Puschkin-Preises, Ehrenmitglied der Russischen Akademie – eine Stimme Russlands, die nach 1917
verstummte, ja erstickte, denn er nahm die Revolution wahr als eine „Orgie des Todes“. Er liebte das alte Russland, seine Dörfer, seine Menschen – er zerbrach an der Gewalt der Umbrüche, die das Dorf und seine Schenken, Bahnhöfe und Jahrmärkte zerstörten. Er blieb in seiner zärtlichen melancholisch-impressionistischen, bezaubernden Sprache und hielt nichts von den neuen Lautexperimenten etwa des Daniil Charms. 1933 erhält er als erster Russe den Nobelpreis für Literatur, da lebt er schon lange in großer Existenznot in Paris. Verarmt, vereinsamt, sieht er voller Entsetzen auf die stalinistische Barbarei, die ihn auch 1945, obwohl von Freunden gebeten, gedrängt, erwartet, an der Rückkehr in die Sowjetunion hindert. 1953 stirbt er in Paris - erschöpft von all dem Schrecklichen, was er erlebt hat, und von all dem Wunderschönen, was er geschrieben hat.
287 Seiten

Antanas Škėma
Er arbeitet als Liftboy in einem großen Hotel, erneut jüngerer Bruder geworden, diesmal des Sisyphos mit seinem up and down, up and down, unablässig, Tür auf, Tür zu, steigt ein, steigt aus... Ein vierzigjähriger Liftboy, steigend, fallend, mit einer großen Liebe für Albert Camus, den Sisyphoskenner... Beide sterben bei Autounfällen, Displaced Persons auch im Tode.
Und immer wieder litauische Volkslieder, Kindheitsbilder. Was bewahrt ihn vor dem Absturz ins Bodenlose? Ein „weißes Leintuch“. Während der sowjetischen Besatzung wurde er nicht gedruckt, seine Literatur galt als „reaktionär und formalistisch“. Die letzte Seite des Buches „Das weiße Leintuch“ ist ein Porträtbild, wie Jonas Mekas ihn sah: Eleganter Landstreicher im weiten Mantel mit weiten Hosen, schon New York, noch Wilna; Spieler, Sänger, Schreiber, stilbewusst, frei und nachdenklich.
Dank dem Guggolz Verlag und seinem Gespür für verloren gegangene Literatur, Dank an Claudia Sinnig für die Übersetzung und die liebevolle Textannäherung! Helmut Ruppel
Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig

Ute Frevert. Mächtige Gefühle. Von A wie Angst bis Z wie Zuwendung. Deutsche Geschichte seit 1900
Angesichts der Corona-Leugnung und ihrer verwirrten Deutungen erscheint der Klageruf: „Was hat die Menschheit seit 100 Jahren gelernt?“ nachvollziehbar. Es kann gut sein, dass das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gebeten werden muss, einen Forschungsbereich zu eröffnen: Die Macht der Dummheit“.
Gefühle zeigen, Gefühle nicht zeigen – im Nu ist ein Lebenslauf, eine Karriere, eine Wahl, ein Urteil entschieden. Ute Frevert hat zwanzig „Mächtige Gefühle“ herausgestellt und ist ihnen in der deutschen Geschichte nachgegangen – ein großes Magazin, dessen Fächer reich gefüllt sind und dienach Erfahrung und Interesse mit Zitaten, Kontexten und Bildern geöffnet werden können – der Ausstellung mit zwanzig großen Tafeln gleich. Meine Neugier richtete sich zuerst auf Hass, Wut, Stolz und Neid, um politische Phänomene hier und anderswo besser in den Blick zu bekommen. Demut, Geborgenheit, Solidarität, Vertrauen, Zuneigung, Freude werden in der deutschen Geschichte seit 1900 mit ihren erschreckenden Ambivalenzen entfaltet. Die restlichen seien genannt: Angst, Ehre, Ekel, Empathie, Hoffnung, Liebe, Neugier, Nostalgie, Scham und Trauer.
Jedes dieser Gefühle füllte Regale, nähmen wir weitere Ebenen dazu wie Bildende Kunst und Musik. In einer bekömmlichen didaktischen Reduktion (!) breitet die Autorin einen Fächer der Gefühle aus, der zum Weiterlesen, zum Gespräch-Eröffnen, zu seminaristischer Runde im freundlichen Kreis einlädt. Über fünfzig Seiten Anmerkungen erweitern und vertiefen die historischen Anstöße. Eins sei noch angemerkt: Ist „Guernica“ von Pablo Picasso das Bild des 20. Jahrhunderts für Europa, so das Photo des knienden Willy Brandt im ehemaligen Warschauer Ghetto das Gefühls-Bild der Deutschen Geschichte seit 1900. Helmut Ruppel
28 Euro

Thomas Blubacher. Das Haus am Waldsängerpfad. Wie Friedrich Wistens Familie in Berlin die NS-Zeit überlebte
Die Nachbarschaft bot Personal für einen Alptraum: „Reichsfrauenführerin“ Scholtz-Klink wohnte in der Nähe, ebenso wie der Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, Walter Gross.
Unterdessen war Fritz Wisten in die Leitung des Jüdischen Kulturbundes berufen, der von Nazis
Gnaden jüdisches Theater für das jüdische Berlin spielen durfte. Mit der Pogromnacht 1938 veränderte sich das Leben völlig: Aufführungsverbote, misslungene Emigrationsversuche, Haftaufenthalte, das Leben wurde unaufhaltsam zugeschnürt ...
Am 26. April 1945 erschienen Russen im Berliner Süden – das Atmen wurde wieder leichter. Thomas Blubacher, Schweizer Theaterhistoriker (Monographie über Gustaf Gründgens) dokumentiert auch die Ost-Berliner Theatergeschichte Fritz Wistens, die „Theater“ mit Kollegen und der SED, wobei er immer Grenzgänger blieb, denn er gab das schöne Haus im Waldsängerpfad bis zu seinem Tod 1962 nie auf – ein hausgroßer, diesmal besonders schöner Stolperstein. Da steht er mit blendend weißer Fassade; nun können wir eine bewegende Überlebensgeschichte im „Hausbuch“ lesen. Es gibt Zeugnis vieler Gefühle: Trauer, Geborgenheit, Solidarität und Hoffnung gehörten gewiss dazu - und Zuneigung.
20 Euro

Günter de Bruyn. Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll
Helmut Ruppel
22 Euro

Gustave Flaubert. Lehrjahre der Männlichkeit. Geschichte einer Jugend
Fairerweise gehörten zu diesen Angaben die Nennung der siebzig Seiten Nachwort - eine brillante Studie für sich – und 150 Seiten Anmerkungen geradezu so enzyklopädischer wie angenehmer Gelehrtheit. Die „gelungenste Klassiker-Ausgabe, die es hierzulande zu kaufen gibt“, schwärmt ein Kritiker in der ZEIT. Erschienen 1869, wurde der Roman zwischen 1914 und 2001 zehnmal ins Deutsche übersetzt mit insgesamt sieben Titelvarianten. „Üb-ersetzen“, Karl Kraus sei Dank! Die Untersuchung Elisabeth Edls zu Titel und Titeln ist ein philologisches Medaillon der besonderen Sprachklasse!Von den vier Romanen Flauberts – Madame Bovary, Salambo, Bouvard und Pecuchet sowie der Education sentimentale – trägt er keinen Personennamen, will dagegen eine männliche Jugend zwischen 1840 und 1851 in Frankreich abbilden unter intensiver Einbeziehung der historischen Umstände, vor allem der „Revolution“ von 1848. Es muss die sprachliche Eleganz Elisabeth Edls sein, die den Text gänzlich unromantisch, dagegen sehr straff, knapp, ungezügelt mit seufzender Ironie und kopfschüttelnden Pointen dahinstürmen lässt. Henry James, ein großer Erzähler, fragt mit vollem Recht angesichts der Lektüre: „Why, why him?“. Die Hauptperson Frederic Moreau ist ein verwöhnter Jüngling, „der sein Liebesglück aus Tölpelei und Charakterlosigkeit zuverlässig vermasselt“, so noch heute eine verärgerte kritische Stimme, „eine lasche Lusche“. Die gnadenlose Schärfe, das illusionslose Spiegelbild, die gallige Verachtung, mit der Flaubert seine Zeit sieht und das bewundernswerte Ensemble seiner Figuren reden lässt, lässt keine Unterbrechung beim Lesen zu! Der Roman verlangt, wie sein späterer Kollege Marcel Proust forderte: „Tage des Lesens.“
Mit den Anmerkungen – 150 Seiten – ließe sich ein Romanistik-Studium gut beginnen. Selbst wer den Roman im Regal stehen hat, wird einem völlig neuen Buch begegnen, nämlich den „Lehrjahren der Männlichkeit“, die literarischste Didaktik des 19. Jahrhunderts – stilvoll, einsichtsreich, sehscharf, antiromantisch, aufgeklärt, mitleidlos und liebevoll zugleich. Die „Lehrjahre“ können zum „Lehrlesen“ werden. Helmut Ruppel

Alexander Kluge. Russland-Kontainer im Bücherbrief

Leonid Zypkin im Bücherbrief
Bücherbrief mit freundlichen Grüßen aus Schleichers Buchhandlung in Berlin-Dahlem Sommer 2020
Pandemisch ? - Panepisch !
In Zeiten der „abgesagten Anwesenheit“ tut es gut, verloren gegangenen Büchern wieder Anwesenheit zugeben, ja, sie zu ent-decken, sie wahr zu nehmen, nach dem sie uns und auch ihren Autoren lange Zeit vorenthalten wurden. Diese Buch-Geschichte Osteuropas muss erst noch geschrieben werden, dann wird aber dazugehören ein Meisterwerk, das alle Maßstäbe durchbricht und in seiner ungestümen Wortkraft und erzählerischen Energie, unaufhaltsamen Darstellungsexplosion und so rasenden wie mikroskopisch präzisen Beschreibungsrasanz im Sinne des Wortes ein-malig ist. Wer sich um Punkte, Kommata, geschweige denn Absätze bemüht, wird rasch aufgeben. Das Leben ist kein stiller langer Fluss, es ist ein kataraktähnlicher Schnellstrom und dabei genau, detailliert, ein präzise sich reihender Bilderfluss.
Um wen und was geht es? Leonid Zypkin, Ein Sommer in Baden-Baden, im März erschienen samt dem
Erstlingswerk des Autors: „Eine Brücke über den Fluss“. Um beide Bände müht sich der Aufbau-Verlag:
Dem „Sommer in Baden-Baden“ gibt er ein brillantes Vorwort von Susan Sontag hinzu und das „St. Petersburg-Album“ des Autors, der „Brücke“ ein berührendes Nachwort des Sohnes Michael Zypkin, das über den historischen Hintergrund aufklärt. Die Leistungen im Übersetzen von Alfred Frank und Ganna-Maria Braungardt fordern auch dem Nicht-Russischkenner großen Respekt ab.
Wer war Leonid Zypkin? In dem Ramschkasten zerfledderter Taschenbücher vor einer Londoner Buchhandlung stieß Susan Sontag auf einen Band, den sie bald „zu den schönsten, anregendsten und originellsten literarischen Werken des vergangenen Jahrhunderts zählen würde.“ Gibt es das, ein noch heute verborgenes literarisches Meisterwerk? Ja, dass es auf uns gekommen ist, grenzt an ein Wunder! Leonid Zypkin kam 1926 in Minsk zur Welt, es war eine Welt des russischen Judentums, weit verzweigt in der wissenschaftlichen und künstlerischen Elite des Landes. Es mutet seltsam an, dass er beruflich sich auf tödliche Virusinfektionen und die Einführung der Polioschutzimpfungen spezialisierte. Zwei lebensbedrohende Gegner mussten Familie, Verwandtschaft und Freundschaft überleben: den Großen Terror ab 1934 – zur Erinnerung. Karl Schlögel, Traum und Terror, Moskau 1937 - und den allzeit gewalttätigen Antisemitismus. Paart sich der letztere wie auch zunehmend bei uns mit einer der verheerendsten und unbesiegbarsten Mächte dieser Welt, der Dummheit, geht es nur noch ums Überleben. Kommt zur Dummheit die Bosheit hinzu, scheint alles verloren. (Wenn das „Weiße Haus“ 2020 den Sieg über den deutschen Faschismus ausschließlich Amerika und England zuschreibt, ist es schon geschehen...)
Nach den Mühen des Überlebens, die Susan Sontag rekonstruiert, wendet sich Zypkin mit Beginn der sechziger Jahre dem literarischen Arbeiten zu. Mit der Literatur hatte er von Anfang an geflirtet, Pasternak war der Stern seiner Jugend. Aber er schrieb für die Schublade, er fürchtete den KGB und liebte seine Familie. Dem Sohn Michael und seiner Frau Jelena gelang es 1977, Ausreisevisa in die USA zu erlangen,was die Eltern mit Demütigungen zu bezahlen hatten, Rückstufungen, Verlust der zwei Doktortitel, soziale Isolation. Folge: Zypkin fing an zu schreiben und es begann das hochriskante Abenteuer, Manuskripte durch den Eisernen Vorhang (welch ein Name!) in die USA zu... „bringen“. Am 13. März 1982 erschien die erste Folge seines Romans in einer russischen Emigrantenzeitschrift in New York. Sein Sohn rief am 15.März an und teilte es dem Vater mit. Am 20. März erlitt Leonid einen Herzanfall und starb. Er war sieben Tage lang ein veröffentlichter russischer Schriftsteller gewesen – und es war ein Meisterwerk! Ob nun seriös und subtil, ob deftig und plakativ – was immer die Werbung sagt - Es ist so!
„Ein Sommer in Baden-Baden“, von einem Russen geschrieben - das ist keine Pastorale, das meint Dostojewski! Zuvor noch eine Erinnerung: In Wassili Grossmans Erzählungsband „Tiergarten“, (Claassen, Band 2009, 119-130) finden wir die Erzählung „ Die Sixtinische Madonna“ mit einer bewegenden Auslegung von Raffaels Bild. Bevor es wieder nach Dresden zurückgebrachr wurde, war es im Moskauer Puschkin-Museum noch einmal 90 Tage zu sehen. Grossman stand in einer Warteschlange und Zypkin stand in einer Warteschlange Sie kannten einander nicht. Zypkin wusste, dass eine Reproduktion über Dostojewskis Schreibtisch hing. Er hat aber Grossman nicht gelesen und Grossman wusste nichts vom Ort des Bildes an Dostojewskis Arbeitsplatz...
Vom Roman sagt Susan Sontag: „Nichts ist erfunden. Alles ist erfunden.“ Und das in einem atemnehmenden Ineinanderverwobensein aller nur möglichen Ebenen: Des Lebens von Fjodor („Fedja“) Dostojewski und seiner jungen Frau Anna Grigorjewna, des Lebens von Leonid Zypkin und seiner Frau Natalja Michnikowa, des Lebens der Eltern, der Jahre vor und nach dem Großen Terror, der Jahre in Baden-Baden, der vielen Personen und Stationen in Dostojewskis Romanen und Erzählungen, der Wohnorte und Häuser in St. Petersburg.
Es gibt nur ein „Jetzt“, in das alles zusammenschießt. Der Erzähler sitzt im Zug und liest Erinnerungen von Anna Grigorjewna. Woher hat er das vergilbte sich auflösende Büchlein? Und unmittelbar beginnt sich alles mit allem in unheimlicher Spannkraft zu verweben. Im Sinne des Wortes: Unbeschreiblich!
Die Höllenstürze in der Spielbank, die entsetzlichen Erniedrigungen Annas durch diesen Getriebenen, die fürchterlichen Sterbeszenen, ein geradezu unheimliches Einfühlungsvermögen. Wer länger als dreißig Minuten lesen kann ohne aufzustehen und sich der Realität zu vergewissern, dem gilt meine Bewunderung! Allein der Streit mit Turgenjew, dem er in Baden-Baden begegnet, ist ein Roman für sich. Und die Leiden seiner Frau Anna erst recht. Und Baden-Baden, Dresden, Hamburg – und Zypkin hat nie etwas selbst gesehen... Ich breche ab und schließe mich Susan Sontags Worten an: „Aus der Lektüre des Romans „Ein Sommer in Baden-Baden“ geht man geläutert, erschüttert, gestärkt hervor, man atmet ein wenig tiefer und ist dankbar dafür, was die Literatur alles in sich bergen, was sie alles veranschaulichen kann. Leonid Zypkin hat kein dickes Buch geschrieben. Aber er hat eine große Reise gemacht.“
Helmut Ruppel
Der Bücherbrief erscheint in Zusammenarbeit mit KONTAKTE - KOHTAKTbI, Verein für Kontakte zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion, Feurigstraße 68, 10827 Berlin