THOMAS LACKMANN. MENDELSSOHNS GÄRTEN. WIE DER JUDE VON BERLIN IN LAUBEN, PARKS UND SOMMERFRISCHEN FAND, WAS ZUM LEBEN NÖTIG IST

Jüdischer Verlag
Der Jelena gleich, die in Bulgakows einmaligem Kultbuch über den „Meister und Margarita“ nächtens über Moskau fliegt, so lädt Lackmann zu zwölf „Spazierflügen“ ein. Da kann einer heißen: „Achter Spazierflug durch die Epochen bepflanzter Gehege beim Kollegienhaus an der Kreuzberger Lindenstraße, entlang der Wilhelmstraße in Mitte und durch das größte grüne Labyrinth Berlins“, ein anderer: „Dritter Spazierflug: vom biblischen Eden bis zum Hain der Toleranzgöttin Minerva, über die Kriegspublikation Mendelssohns und seine Arbeitslauben bis zum Frischischen Garten beim Spandauer Tor“, und wieder ein anderer, sehr persönlicher: „Von der Liebeslaube nach Moses' Ruh.“ „Fünfter Spazierflug: Vom Altonaer Gartenhaus der Schwiegereltern zur Laubhütte in der Spandauer Straße, über die Wiesencavel jenseits der Stadtmauer bis zur sommerlichen Rosenlaube.“
Diese Spazierflüge sind kenntnisreiche, unterhaltsame, im besten Sinne belehrende Gedankenflüge zur Kultur-Geschichte Berlins, besser, zu all den Orten, aus denen Berlin zusammenwachsen sollte zu dem Gebilde, das heute diesen Namen trägt. Hinzu kommen Abbildungen, entdeckte und wieder freigelegte Quellen zur Lokalgeschichte, biographische „Jahreszeiten, Gartenzeiten“, Übersetzungen, Gedichtversionen, kapitelbezogene Quellen und Impulse zum Weiterlesen – das Ganze mit großer Lust zum Enzyklopädischen, sehr oft an der Hand Friedrich Nicolais „Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam 1786“, dabei nie ohne den heiteren, ja, den aufklärend wohltuend-anregend inspirierenden Erzählstil zu verlassen, mit ironisch-bekömmlichem Augenzwinkern samt berlinisch unverfrorenen Untertönen, „der Bau dauerte lang, wir sind in Berlin“, so etwa – und doch: Wie brillant kann historisches Erzählen sein, wenn es unterhaltsam und lehrreich ist! Bei der Lektüre dachte ich oft an Heinz Knoblochs „Herr Moses in Berlin“, 1979 im DDR-Berlin ein Ereignis!
Wem in seiner Zeit wird es so bewusst gewesen sein wie ihm, dass seine Tora den Schöpfer und den Menschen so vorstellt: „Und Gott legte einen Garten an in Eden, das ist im Osten, und setzte den Menschen dort hinein“, (1. Buch Mose 2,8). Alles beginnt in einem Garten und der Schöpfer tritt auf als Gärtner. So tritt auch Jesus, der Auferstandene, als Gärtner auf (Evangelium des Johannes, 20,11ff.) und mit Ostern beginnt die Schöpfung noch einmal – mit neuer Garten-Ordnung, die wir gegenwärtig so vermissen. Moses Mendelssohn geht dieser neuen Schöpfung nicht nach, die alte, die erste, gibt ihm genug zu denken. Das tut er mit allen seinen Freunden und Widersachern. Lackmann (u.a. auch katholischer Theologe) gibt diesen Gedankenflügen Mendelssohns mit den Freunden im Gelehrten Kaffeehaus, den Aufklärer-Lauben und den erleuchteten Philosophen-Zirkeln viel Raum, vermittelt „Einblicke“ in die Gedankenwelt seiner nahen und fernen Gesprächspartner, zuvörderst Nicolai und Lessing, Ramler, Gleim und Dohm. Dann gibt es wieder völlig unerwartet ein charmantes Kapitel über Bad Pyrmont und seine Parks. Mendelssohn ist eben – und das ist Lackmanns schöne Tat – mehr als der graue „Toleranzlangweiler“. Und es macht Spaß, den Berliner Sokrates in seine Grünzonen zu begleiten. In der Laube wird aus dem Zeigefinger-Denkmal ein Mensch. Der erste Moses führte sein Volk durch die Wüste, der zweite lädt in die Gärten ein – dafür öffnet Thomas Lackmann die Augen!
In einem Garten-Spruch ist Moses Mendelssohn schön erkennbar uns vor Augen: „Narren hasten, Kluge warten, Weise gehen in den Garten“. Das meint nicht bekömmliches Eremitenleben! Herr Moses war ein extrem öffentlicher Mensch. Und deshalb ist es völlig unverständlich, dass er im gegenwärtigen Kampf um Hass und Gewalt – dazu an einem Ort mit dem gartennahen Namen „Sonnenallee“ - vollkommen unbeachtet bleibt, als schäme sich Berlin seiner. Was alles Gutgemeinte geredet wird – Mendelssohn lesen und seine Toleranzappelle laut erinnern - er könnte Berlins Stimme sein! Helmut Ruppel
303 Seiten
28 €