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Christine Wunnicke. Wachs

Berenberg Verlag

Wunnicke gelingt der seltsamste Romananfang, den ich jemals gelesen habe: An einem kalten Novemberabend des Jahres 1733 „stapft“ eine Dreizehnjährige übers verschlammte Feld zur Kaserne der „Schwarzen Musketiere“ in Paris. Unbekümmert und zielsicher gelangt sie am Wachsoldaten vorbei und mit ihm in eine Soldaten-Wachstube und bittet um eine Leiche, denn die sind ja bei den Soldaten gelagert. Sie ist die Tochter eines Apothekers, neu-gierig und wiss-begierig. Wie geht man da vor? Ganz einfach: Man wird Anatomin, man schneidet auf und sieht genau hin.
Dies Eingangskapitel ist präzis, lakonisch, sprachlich sehr elegant und aberwitzig intelligent geschrieben, so genial–irreal, die 13jährige nachts in der Kaserne auf Leichensuche mit den ziemlich bestussten Musketieren. Und es ist die erste Tat jener berühmten Marie Marguerite Biheron, Zeichnerin und Erschafferin (1719-1795) damals sehr begehrter „Wachs“-präparate. Sie gewinnt eine Lehrerin, Madeleine Françoise Basseporte (1701-1780), in Paris berühmte Blumenmalerin mit ungeglücktem Briefwechsel mit Carl von Linné. Beides Frauen im reichen Sinne von selbständig, Autodidaktinnen und Zeitgenossinnen des vor- und hauptrevolutionären Paris, leben in Anwesenheit der Guillotine, aus einem Cembalo gebastelt, Denis Diderot kommt auf einen Kaffee vorbei, will etwas wissen für seine Encyclopédie.
Es ist ein traumhaft genaues Buch über ein Liebespaar: „Marie rannte durchs Leben, Madeleine wurzelte darin. Und an beiden zog es vorbei.“ Ein historischer Roman braucht weniger als 200 Seiten und ist so reich an Couleur des revolutionären Paris, so wissensgefüllt über präzise Blumenmalerei, abgründige Anfänge der modernen Anatomie und daraus erwachsender Wachspuppenbildnerei – makellos, gewitzt, vergnüglich, wohltuend ernsthaft. Wunnicke und Berenberg ein aufrichtiges Dankeschön! Helmut Ruppel

192 Seiten
24€