Kunst hoch drei
Augen für die Kunst. 50 Ansichten und Deutungen
Herausgegeben von Hans Dickel mit Beiträgen von Lorenz und Albrecht Wilkens, Liane Nelius,Marian Wild und Henry Thorau,
starfruit publication, 232 Seiten, 25 Euro
Michael Krüger. Über Gemälde von Giovanni Segantini
Schirmer/Mosel Verlag, 207 Seiten, 38 Euro
Kia Vahland. Ansichtssachen. Alte Bilder, neue Zeiten
Insel Verlag, 112 Seiten, 14 Euro
„ Es gab eine Zeit, da war die Malerei das Leitmedium … sie wandte sich in Kirchen an Analphabeten, im Audienzsaal an Botschafter und Könige, im Wohnzimmer an die Hausherrin. Wer einen Verstorbenen vermisste, ließ ihn malen, wer ein Gegenüber für sein Gebet suchte, erstand ein Andachtsbild … ein neuer Blick auf alte Meister zeigt: Ihre Themen sind unsere.“ So bündig, klar und knapp führt Kia Vahland, Kunstressort der Süddeutschen Zeitung, in ihr äußerst vergnügliches Bändchen ein. Mit 32 Bildinterpretationen zeigt sie auf unsere Themen in alten Bildern: Giorgones Venus trägt bei ihr die Überschrift: Schätzt Auszeiten ohne Pflichten. Tizians Noli me tangere wird von ihr geistvoll überschrieben mit: Was Menschen wirklich berührt. Rubens Venus frigida heißt bei ihr: Rubens zeigt, wie man würdevoll friert. Van Goghs Kurz vor seinem Tod betitelt sie: Van Gogh prangert Altersarmut an. Klimts Adele Bloch-Bauer überschreibt sie: Klimt kennt das richtige Verhältnis von Exzess und Kontrolle. Es ist durchgehend ein kluges Vergnügen, fordert zu eigenem Formulieren und damit Interpretieren auf, lässt sich festtäglichen Runden „spielen“ und ist ein geistvoller Schritt zu alten Bildern in neuen Zeiten. Ihr Inselbändchen „Gartenreich Wörlitz, Ausflug in eine Utopie“ (Inselbücherei 1499, 2022, 85 Seiten, 15 Euro) wird vom „Portal Kunstgeschichte“ hoch gelobt. Mit dem Bändchen in der Hand sollte man sich auf eine Reise nach Wörlitz einlassen.
Der große Vorteil, den der Band von Dickel, den Brüdern Wilkens und anderen hat, dass sie Bilder vor Augen führen, die wir in Berlin sehen können! Jacob van Ruisdaels „Eichen an einen See mit Wasserrosen“,Nicolas Poussins „Landschaft mit Matthäus und dem Engel“, Claude Lorrains „ Italienische Küstenlandschaft im Morgenlicht“, C.D. Friedrichs „Waldinneres bei Mondschein, John Constables „Das Dorf Higham am Fluss Stour“, Pierre Claeszens „Stilleben mit Römer und Silberschale“. Viele weitere Arbeiten führen, ähnlich wie bei Vahland, zu Interpretationen und leiten uns an, „Augen für die Kunst auszubilden“, eine intime Form der Selbsterkenntnis. Das Buch ist eine schöne Schatzkammer, in welche Richtung man seine Schritte auch lenkt. Die Überschriften der Interpretationen führen die Bildtitel sensibel weiter. Im Nachwort schreibt Lorenz Wilkens von einer freien, beweglichen „Anspannung der Aufmerksamkeit“ beim unmittelbaren Betrachten der Bilder. Doch auch im Buch wird sie sich wieder einstellen, gewiss beim Museumsbesuch mit dem Band in der Hand...
„Seit ziemlich genau fünfzig Jahren liebe ich das malerische Werk von Giovanni Segantini. In meiner Jugend hatte sein Bild Rückkehr in die Heimat von 1895 im Museum Dahlem mich auf seltsame Weise angezogen, so dass ich jahrelang behauptete, der Maler müsse (psychisch oder seelisch) etwa so gewickelt sein wie ich...“, eine berührende Eröffnung, ist doch von Liebe die Rede, von seltsamer Anziehung und von Geburt her währender Lebensnähe („gewickelt sein“). So eröffnet Michael Krüger seine mit Segantini verbundene Lebens-und Liebesgeschichte. Der recht bemessene Abstand verbindet am besten, diese kluge Regel fürs Zusammenleben, fürs Leben mit Bildern und Büchern (wie ist es mit der Musik?) wird jede Kunsthistorikerin und jeder Bildbetrachter beherzigen. Krüger ist keiner – er „liebt“, mehr noch, er nimmt, wie aufgeklärt oder analytisch auch immer, eine tiefe Verwandtschaft, eine gegebene Verbundenheit mit dem Maler wahr. Die Zunft reagiert auf das Buch verwundert, mal grämlich dämpfend, mal verwundert-beglückt. Roman Bucheli mag den Nerven des Buches (Neuen Zürcher Zeitung,02.07.'22) am nahesten kommen: Er sieht, in der Sprache der Romantik, eine „Seelenverwandtschaft“ der beiden in ihrer Liebe zum unverstellten Licht der Schöpfung, in den Anflügen zu einer elementaren Kunstreligion, zum Existieren in einem himmelsgleichen Lichtraum fernab aller trubeligen Ablenkungen des geschäftig-leeren Alltags. Das würde Segantini, den Maler des Lichtes über der Oberengadiner Alpenwelt, der nur „draußen“, plein air, arbeitete und somit allzeit in der elementaren bäuerlichen Welt lebte mit dem auch aus der land-wirtschaftlichen Erfahrung stammenden, und jüngst in erzwungenen Einsamkeiten ausharrenden Krüger eng verbinden. Bucheli geht so weit, beiden eine gewisse religiöse Zuneigung zur lichterfüllten Schönheit der Schöpfung, dem Schau-Raum Gottes, zuzusprechen. Und wenn Krüger sagt: „Mit Segantini kann man sehr weit sehen“, ist das gefüllt mit wortlosen Ahnungen und Empfindungen und wir verstehen: Der Romanautor ist ein Romantiker.
Michael Krüger nähert sich seinem Maler literarisch, sprachlich mit-malend, empathisch; er neigt sich zu den Bildern, in unverstellter Zuneigung und Zuwendung. Er widmet den schweren, schönen bilderreichen Band den Freunden, „mit denen ich oft vor den Bildern gestanden habe“ und die „während des Schreiben meines Textes gestorben“ sind - unter ihnen Karl Heinz Bohrer und Klaus Wagenbach. Und ein klein wenig klingt durch das Buch der Versuch, sich mit den Bildern Segantinis noch einmal des eigenen Lebens zu vergewissern. Da schreibt einer ein Buch für sich und es wird ein Geschenk für viele..
Helmut Ruppel